: „Die Welt soll sehen, daß ich gelebt habe“
■ Ein Rentner der etwas anderen Art: Der Travestiekünstler Madame Lothár alias Lothar Gräbs wurde 65 Jahre alt
Eines Tages im Jahr 1993 ging das Bein von Lothar Gräbs seinen eigenen Weg. Die Gefäße waren verstopft, und die MedizinerInnen der Universitätsklinik in Göttingen beschlossen deshalb, Lothar Gräbs Bein dazubehalten. Es war besser so. Denn eine übertriebene Anhänglichkeit zu seinem kranken Bein wäre ihm nur wenige Tage später schlecht bekommen. Lothar Gräbs hätte sterben können. Und nach Sterben ist dem heute 65jährigen nach wie vor nicht zumute. „Die Welt soll sehen, daß ich gelebt habe“, sagt Gräbs, besser bekannt als Madame Lothár, dem Star des Travestietheaters im Schnoor. „Und die Welt hat noch nicht alles gesehen, was ich zu geben habe.“Die große Geste – man lernt sie effektvoll zu setzen in Gräbs Metier.
Die beiden Jahre nach der Amputation waren schwer, gesundheitlich wie beruflich. Aber die Zeit heilt so manche Wunde. Selbst wenn sie groß ist wie ein Beinstumpf. Und nach Jahren der erzwungenen Abstinenz gewinnt man zuweilen sogar einen gewissen Abstand zu den Gliedmaßen, die einst zu einem selbst gehörten. „Ich hoffe, es geht meinem Bein gut in Göttingen“, sagt Lothar Gräbs heute – mit der Gelassenheit eines Menschen, der einst auf beiden Beinen durch das Leben tanzte.
Vom Tänzer zum Barmixer
Tanzlehrer Kurt Joos mochte vor allem grazile Tänzer. „Eben solche, die fliegen wie eine Elfe. Damit konnte ich, wie Sie sich sicherlich vorstellen können“– und ein kurzer liebevoller Blick wandert über den stämmigen Körper – „schon damals nicht dienen.“Damals, das war 1947 in seiner Geburtsstadt Essen, wo es dem hartnäckigen Gräbs aber trotz der wenig elfenhaften Voraussetzungen dennoch gelang, den skeptischen Kurt Joos von seinen tänzerischen Qualitäten zu überzeugen. Gräbs studierte Tanz bei Joos an der Folkwang-Schule in Essen, bis ein Sehnenabriß zu Beginn der 50er die Karriere beendete, noch ehe sie begonnen hatte. Also doch zurück ins Hotel- und Gastronomiegewerbe, so wie es die Mama schon immer gewollt hatte?
Kommt darauf an, was sich in der Nachbarschaft der Ausbil-dungsstätte befindet. Im schweizerischen NeuchÛtel, wo Gräbs die Hotelfachschule schließlich absolvierte, war es das Studio von Harald Kreutzberg. Harald Kreutzberg? „Sie wissen nicht, wer das ist? Mein Gott, das war der größte Ausdruckstänzer, den es jemals gegeben hat!“Virtuosität hinter der Theke und auf der Bühne: Von der Zeit in der Schweiz profitiert Gräbs bis heute, etwa wenn er auf der Bühne seines Travestietheaters im Seidenröckchen und in Tennissocken die Prima Ballerina mimt, während die Gäste genußvoll die hauseigenen Longdrinks schlürfen.
Essen, Köln, Paris, Hamburg – den Hotelfachmann Gräbs hielt es nicht lange in einer Stadt. Und in dieser Phase der Wanderschaft setzte er dort, wo die Jugend der Welt den Existentialismus begrüßte, schon das erste Zeichen, für das ihn die Menschheit in Erinnerung halten wird: „Little Devil“, ein berüchtigter Cocktail, mit dem er Mitte der 50er Jahre im Pariser Nachtlokal „Crylon“an der Place de la Concorde seine Prüfung als Barkeeper mit Bravour bestand.
Der „Kleine Teufel“fand seinen Weg in die Ahnengalerie der Barkeeper, in Gräbs Leben jedoch hatten Teufel schon immer einen schweren Stand. Mit dreißig tritt er der katholischen Kirche bei. Eine Abkehr von seinem Kinderglauben, denn die Eltern hatten ihre vier Kinder im Geiste der Zeugen Jehovas erzogen. Wegen ihres Glaubens steckten die Nazis die Eltern ins Konzentrationslager, während Gräbs und seine Geschwister zur „Umerziehung“ins Benediktinerkloster nach Ottobeuren kamen. Nach dem Krieg, den die Familie dann doch überstanden hatte, entfremdete sich Gräbs zunehmend vom elterlichen Glauben, bis er schließlich im Katholizismus eine neue Heimat fand.
Vom Kleinen Teufel zum Katholizismus
1961 schließlich – St. Pauli, wo er in der Zwischenzeit im Nachtclub Regine als Conférencier gearbeitet hatte, kehrte er „wegen der vielen Morde auf dem Kiez“den Rücken – kommt Gräbs nach Bremen. Schnell wird er Geschäftsführer des renommierten „Astoria“, ehe er dann nach der Schließung des Varietés 1964 in der Faulenstraße die Kneipe „Tomate“eröffnet. Gräbs erster eigener Laden. Aber vor allem Bier in betrunkene Seeleute laufen lassen: Kein Job, der ihn auf Dauer erfüllt. „Playboy“und „Schubkarre“, Gräbs folgende Neugründungen, versuchen sich bereits in der Verbindung von Tanzlokal und Gaststätte. 1969 schließlich eröffnet er in der Al-brechtstraße das Nachtlokal „Mic Mac“. Die zukünftige Bremer Heimat der Schlagerelite der 70er war geboren.
Cindy und Bert, Gunther Gabriel, Penny McLaine, Silver Convention oder Juliane Werding tummelten sich Samstag für Samstag in der Nacht auf der kleinen Bühne des „Mic Mac“. Bernhard Brink sang „ich glaub Dir jede Lüge“, Ricky Shane sprengte alle Ketten und prophezeite „Es wird ein Bettler zum König“. Wilde Zeiten also. Bis das Stadtamt Gräbs aus Angst vor zu viel Aufsehen (sic!) verbot, überregional für seine Veranstaltungen zu werben. „Das war die Zeit, wo man Schamwände zwischen die Pissoirs stellen mußte, damit man dem Nachbarn nicht beim Pinkeln auf den Pimmel gucken konnte. Wenn Sie verstehen, was ich meine!“Wir verstehen.
Das Ende der Schlagerhype war schließlich die Geburt von Madame Lothár. Anfang der 80er hatte Gräbs die Show-Reihe „Travestie-Express“organisiert. Doch sobald ein Künstler ein wenig erfolgreich war, suchte er sein Glück in Berlin und Hamburg. Gräbs mußte immer wieder neue Talente aus dem Hut ziehen, bis er sich 1984 selbst im Zylinder vorfand. „Ich wollte es den anderen zeigen, daß ich das auch kann.“Seitdem tanzt Lothar Gräbs alias Madame Lothár durch Bremen, besingt – „obwohl ich eigentlich gar nicht singen kann“– pathetisch das Schicksal der Frau Novak, die aus Naivität und falsch verstandener Liebe in die Prostitution abgleitet, oder imitiert mit Brille und Blümchenkleid Nana Mouskouri. Rollen gibt es für Lothár so viele, wie es Frauen gibt: Sein Repertoire im Travestietheater an der Kolpingstraße, das er gemeinsam mit seinem Partner Matthias Schnaars nach der Schließung des „Mic Mac“1992 gründete, ist praktisch unbegrenzt.
Hemmungslos sentimentaler Kitsch im Fummel bei Halb- oder Vollplayback: Lothar Gräbs Show ist vor allem etwas für hartgesottene Trashfans. Oder, je nach dem, für ganz zarte Seelen. Die Wände des Theaterfoyers sind gespickt mit Briefen, die gerührte Besucherinnen geschrieben haben. Ein Abend im Travestietheater, und alle Sorgen dieses zuweilen elenden Lebens seien verflogen, schreiben sie. Glaubhaft. Unglaublich.
Während eines Spaziergangs auf einem Friedhof hat Lothar Gräbs auf einem Grabstein gelesen: „Ich wurde geboren und nicht gefragt, ich bin gestorben und habe nichts gesagt.“So trist wird Madame Lothár die Bühne nicht verlassen. Der Fummel und die Fans seien davor. zott
Karten für das Travestietheater im Schnoor (mi bis so jeweils ab 21.30 Uhr) unter
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen