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Opfer dummer Verkehrsunfälle

Ob bei St. Peter-Ording an der Nordsee oder im fernen Tasmanien: Jahr für Jahr wählen Wale den falschen Weg – und stranden. Die Gründe sind umstritten: Werden sie Opfer erdmagnetischer Linien unter dem Meeresboden? Oder haben die Ölplattformen schuld, wie Greenpeace meint?  ■ Von Irene Meichsner

Ein Pottwalbulle könnte entschieden bequemer leben, wenn ihm die Pottwalkuh wenigstens etwas entgegenkäme. Doch während er bevorzugt in kühleren Meeresregionen nach Nahrung sucht, tummelt sie sich im mollig warmen Wasser vor Afrika und geht selbstverständlich davon aus, daß er sich pünktlich zur Paarungszeit bei ihr blicken läßt. Einige tausend Kilometer sind es vom Polarkreis zum Äquator. Diese Reisestrapazen könnten Pottwalbullen sich sparen, wenn ihre Weiber nur etwas mobiler wären. Dann liefen sie auch nicht Gefahr, entkräftet an irgendeiner Küste zu stranden.

Und zwar so, wie es kürzlich wieder geschah. Statt wie üblich westlich an den Britischen Inseln vorbeizuziehen, verirrten sich Ende Januar sechs Pottwale in die Nordsee. Drei von ihnen konnten menschliche Helfer zurück ins offene Meer dirigieren, drei verendeten am Strand bei St. Peter-Ording. Anfang Dezember vorigen Jahres hatte es sogar eine Gruppe von 20 Pottwalen erwischt: Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung steuerten die tonnenschweren Tiere auf die dänische, niederländische und deutsche Küste zu.

Vergebens versuchten Tierschützer, sie ins Meer zurückzutreiben oder mit Schaufelbaggern ins tiefere Wasser zu schieben. „Da kämpft man um sie im eisigen Wetter“, seufzte ein dänischer Helfer später, „und dann drehen sie einfach um und schwimmen wieder an Land. Meine Brust und der Hals zogen sich zusammen, als ich sah, wie das Leben langsam aus den gewaltigen Körpern verebbte.“

Solch ein Walsterben ist ein spektakuläres, ja herzergreifendes Ereignis. Doch auf die Frage, warum manche Wale – trotz ihrer außerordentlichen Fähigkeiten – ein so klägliches und scheinbar widernatürliches Ende nehmen, gibt es noch immer keine Antwort. Liegt dem Walverhalten ein noch unbekannter Defekt im Navigationssystem der Tiere zugrunde? Kann ein Sturm sie aus der Bahn werfen? Plagt sie im Falle einer Irrfahrt Migräne? Oder ist es der Mond, der ihnen den Kopf verdreht? Protestieren sie womöglich gegen die Walfangindustrie per Selbstmord? Ergreifen sie eine uneigennützige Maßnahme zur Populationskontrolle? Oder trifft die Vermutung des US- Biologen Forrest G. Wood zu, wonach die Wale, vor Jahrmillionen noch Landtiere, bei Streß instinktiv „auf dem Terrain ihrer Vorfahren Zuflucht suchen“?

Viele Theorien, die zu Walstrandungen verbreitet wurden, zeichnen sich vor allem dadurch aus, daß sie sich „prinzipiell nicht bestätigen oder widerlegen“ lassen, meint der US-Walforscher Richard Ellis in seinem Buch über „Seeungeheuer“, das die Mythen, Fabeln und Fakten von großen Meerestieren erzählt. Der Phantasie sind jedenfalls keine Grenzen gesetzt. Auch als sich die jüngsten Waldramen in der Nordsee abspielten, herrschte an Erklärungsversuchen kein Mangel, allerdings fügten auch sie sich auffällig gut in das Geschäft derer, die sie verbreiteten.

So vermutete der niederländische Biologe Kees Camphuijsen Schwankungen in den erdmagnetischen Linien unter dem Meeresboden, an denen Wale sich möglicherweise orientieren – man hat in ihren Gehirnen, ähnlich wie bei (Brief-)Tauben, eisenhaltige Kristalle gefunden, die solche magnetischen Wellen registrieren könnten. Dagegen tippte der Münchener Neuropathologe Erwin Dahme eher auf Parasiten in den empfindlichen Ohren, die den Gleichgewichtssinn der Wale stören könnten. Greenpeace hingegen macht die zunehmende Meeresverschmutzung, den Lärm von Schiffen und Ölplattformen für das Walsterben verantwortlich.

Tatsächlich wurden in Walkadavern schon große Mengen von Schwermetallen nachgewiesen. Im Magen eines Finnwals, der im November 1997 vor der nordspanischen Küste verendete, fand sich eine fest zusammengepreßte, etwa einen Zentner schwere Kugel aus Plastiktüten, Säcken und anderen Kunststoffteilen. Aber Walstrandungen hat es auch schon gegeben, als das Meer noch frei von Industriemüll war. Sie sind sogar weitaus häufiger, als viele vermuten.

Und sie haben die Menschen schon immer tief ergriffen. Genau 400 Jahre ist es her, als – an einem nicht genau bekannten Februartag – zwischen Katwijk und Scheveningen ein Pottwal strandete, der eindrucksvoll unter Beweis stellte, „welch vielgestaltiges Getier Gott zu Wasser und zu Lande erschaffen hat“. Es war vier Uhr nachmittags, und die ersten Augenzeugen flohen noch erschrocken in die Dünen. Doch dann strömten die Menschen von allen Seiten herbei, um diesen Koloß zu bestaunen. Allein seine Zunge sei „vorn so dick wie ein Bierfaß“ gewesen und das Auge „so groß, wie ein Mann mit Daumen und Zeigefinger abgreifen konnte“, heißt es in einem illustrierten Flugblatt, das der Amsterdamer Verleger Henrick Haestens eilends unter die Leute brachte.

Insgesamt war dieser Wal gut 16 Meter lang; fast vier Meter waren es allein „von seinem Arschloch bis zu seiner Schwanzflosse“. Damals wußte man noch nichts von den erdumspannenden Walwanderungen. Aber daß es ein männliches Tier war, gab sein fast zwei Meter langer Penis zu erkennen. Zuerst habe er dermaßen getobt, daß man es noch eine halbe Meile weit hören konnte, berichtet Hans Sibmacher, ein deutscher Chronist. Bis er schließlich „mit einem solchen Barsten oder Knallen“ starb, „als wan ein Carthaune loss geschossen were“, während ihm zugleich ein Schwall Wasser zum Hals herauslief, „welches so übel gestuncken, das niemandt darbei bleiben mochte“.

Verglichen mit derart plastischen Schilderungen wirken unsere modernen Agenturmeldungen mit ihren dürren Angaben zur Länge oder zum geschätzten Gewicht strandender Wale geradezu erbärmlich. Doch wissen wir ja mittlerweile, daß Wale keine monströsen Ungetüme sind. Manche schreiben ihnen sogar eine nahezu übermenschliche Intelligenz zu.

Wir kennen das komplizierte Echolotsystem, mit dem Pottwale unter Wasser sondieren, ob sich ihnen ein Hindernis entgegenstellt. Wir können ihre Wanderungen mit Hilfe von Satelliten verfolgen. Und niemand käme wohl noch auf den Gedanken, eine Walstrandung als Zeichen göttlichen Unmuts zu deuten oder, so Sibmacher, den lieben Gott gar zu bitten, „seine fürgenomene straffe von uns genediglich abzuwenden“.

Glaubt man dem Biologen Richard Ellis, dann haben Pottwale schon immer „eine besondere Vorliebe für die niederländische Küste“ besessen. Was jedoch keineswegs heißt, daß sie sich auf der Südhalbkugel schonten. 1979 schwammen 56 Pottwale vor Kalifornien und 41 weitere bei Florence in Oregon auf einen Strand. Den traurigen Rekord hält immer noch die Küste von Neuseeland, wo 1974 gleichzeitig 72 Pottwale strandeten; erst kürzlich verendeten 61 Pottwale an der Westküste von Tasmanien – menschliche Rettungsversuche wurden – wie meist – vergebens unternommen.

Manches spricht dafür, daß Wale, die in Gruppen wandern, blindlings einem Leittier folgen – was gewisse Zweifel an ihrer Intelligenz nähren könnte. Andere sind in Not geratenen Artgenossen auch schon zu Hilfe geeilt – was als Beleg für ihr vorbildliches Sozialverhalten gilt. So war es auch in der Nacht vom 22. zum 23. November 1577, als sich der holländischen Küste unter großem Getöse dreizehn Pottwale näherten. Als einer von ihnen schließlich strandete, hätten zwei andere ihn – „blasend und das Wasser vor sich hertreibend“ – wieder „flottzumachen“ versucht. Allerdings seien sie dadurch, so wird berichtet, „ebenfalls aufs Trockene und somit selbst in Verdruß geraten“, zumal „einige Fischer ihnen Taue am Schwanz“ befestigten und sie so „vor Anker liegenließen“.

Sich einen dermaßen fetten Fang entgehen zu lassen lag den Menschen damals offenbar fern. Nichtsdestotrotz hatte dem Berichterstatter das Benehmen der vermeintlichen Ungeheuer mächtig imponiert: „Durch diese beiden Fische, die den ersten befreien wollten, wird uns die Nächstenliebe verdeutlicht, auf daß wir mit allem Vertrauen – merkt wohl auf! –, wie sie es taten, unser Leben füreinander einsetzen mögen.“

Wale sind eben etwas ganz besonderes. Wer das nicht in Rechnung stellt, muß sehen, wo er bleibt. Oder sollte es wirklich stimmen, daß Wale irgendwann einfach die Kurve nicht kriegen und damit – so Günther Behermann vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven – „Opfer eines dummen Verkehrsunfalls“ werden?

Angeblich verfügen Wale sogar über ein komplexes Sprachsystem. Manche Menschen würden alles daran setzen, wenn sie sich mit ihnen verständigen könnten. Doch solange sich die Wale uns gegenüber nicht unmißverständlich äußern, wird es wohl dabei bleiben: Man deutet deren Laute je nach Gemütslage. Die Theorien über Walstrandungen werden weiter ins Kraut schießen, ohne daß wir dadurch sehr viel klüger werden als der griechische Philosoph Aristoteles. Der schrieb vor mehr als 2.000 Jahren: „Man weiß nicht, warum sie auf trockenes Land auflaufen. Es wird gesagt, sie tun dies von Zeit zu Zeit und aus keinem ersichtlichen Grund.“

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