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„Die Sanktionen bringen uns um“

Die seit Jahren andauernden Wirtschaftssanktionen gegen Irak haben die Menschen an den Rand des Ruins gebracht. Für viele Familien reicht es im Staat von Saddam Hussein nicht einmal mehr für das Nötigste  ■ Aus Bagdad Karim El-Gawhary

Abu Haidar ist fast erleichtert. „Gut, daß sie heute nacht heiratet. Wer weiß, was die Amerikaner vorhaben und wie es hier weitergeht“, sagt er. Zu normalen Zeiten hätte seine Tochter Chadija eine ausgefallene Hochzeit in einem Klub an den Ufern des Tigris in Bagdad gefeiert. Doch in diesen Zeiten wird ihr großer Tag etwas bescheidener ausfallen. Abu Haidar hat gerade noch genug Geld für ein kleines Büfett im engsten Familienkreis und eine Nacht in einem Hotel in Bagdad für das frischvermählte Paar.

Dabei ist Abu Haidar für irakische Verhältnisse kein armer Mann. Er besitzt eine Näherei mit einem Dutzend Nähmaschinen. Spezialisiert hat sich sein Betrieb auf Frauenblusen. Doch mit den Wirtschaftssanktionen, die nach dem irakischen Überfall auf Kuwait 1990 gegen den Irak verhängt wurden, hat heute kaum eine Frau das Geld, Abu Haidars vermeintliche Luxusartikel zu erstehen.

So stehen in seinem Betrieb alle Spulen still. „So bitter wie das Leben“, lächelt Abu Haidar, während er in einem Zimmer mit der Aufschrift „Bei Eintritt bitte hier bei der Verwaltung melden“, seinen Kaffee ohne Zucker trinkt. Bei seiner Verwaltung melden sich derzeit nur seine Freunde und Nachbarn, um mit ihm ihren täglichen Schwatz zu halten. „Bis April habe ich die Näherinnen nach Hause geschickt“, sagt er.

Abu Haidar ist kein Einzelfall. Viele Läden in Bagdads Einkaufsstraßen sind nur noch Schein- Treffpunkte, wo sich die Ladenbesitzer mit ihren Freunden die Zeit vertreiben. Und manchmal nicht einmal mehr das. Abu Tarik besitzt eigentlich eine Boutique für Frauenkleidung. Seit drei Jahren sind die Rolläden heruntergelassen. Den Laden offenzuhalten lohnt sich ebensowenig wie ihn zu verkaufen. Statt dessen fährt er Taxi und schlägt sich mit allerlei kleinen Geschäften am Rande durch.

Die Windschutzscheibe seines Taxis hält noch, trotz der vielen Sprünge im Glas. Wenn er den Schlüssel herumdreht, ruckelt erst einmal die Motorhaube für ein paar Minuten, bevor der Motor am Ende doch noch anspringt.

Eine neue Autobatterie kostet 60 Mark. Bei einem monatlichen Durchschnittsgehalt von fünf bis zehn Mark müßte Abu Tarik mindestens ein halbes Jahr aufs Essen verzichten, um sich das wertvolle Stück leisten zu können. So beschränken sich alle auf das Notwendigste, und selbst dafür reicht es oft nicht. Für ein Kilo Fleisch etwa ist gleich das halbe Monatsgehalt weg. „Wir sind alle Vegetarier geworden“, witzelt einer.

„Für den Irak sind die Sanktionen ein tiefes psychologisches Trauma“, sagt ein UN-Mitarbeiter in Bagdad hinter vorgehaltener Hand. „Das war einmal eines der höchst entwickelten arabischen Länder. Die Leute sind ganz tief gefallen.“ Der Mann von der UN muß es wissen. Wenn im UN- Hauptquartier in Bagdad derzeit ein Posten für einen irakischen Fahrer ausgeschrieben wird, melden sich Dutzende von Anwälten und Ingenieuren.

Alter Reichtum und neue Armut verbinden sich mitunter zu absurden Kombinationen: Es gibt viele Familien, die in alten, schönen, geräumigen Häusern mit bestem Mobiliar wohnen und nicht wissen, womit sie morgen den Tisch decken sollen.

Zwei Wochen Warten auf eine Arbeit

Der Tayaran-Platz im Stadtzentrum morgens früh um fünf ist der Schauplatz all jener, die die Sanktionen zu Tagelöhnern gemacht haben. Früher standen hier fast ausschließlich sudanesische und ägyptische Gastarbeiter. Heute stehen Hunderte von Irakern aus den Provinzen am Straßenrand. Die Köpfe eingewickelt in Kufiyas, warten sie auf jene begehrten Autos, die sie zu einer der Baustellen der Stadt bringen.

Nicht jeder schafft das. Er stehe jetzt seit zwei Wochen hier, ohne einen Tag gearbeitet zu haben, erzählt ein Mann aus der südirakischen Stadt Basra. Vor einem Angriff der Amerikaner, sagt er, habe er keine Angst. Eher davor, daß er inzwischen fast sein ganzes Geld für die billige Absteige ausgegeben hat, in der er nachts untergekommen ist. „Nicht ein Militärschlag, sondern die Sanktionen bringen uns um“, sagt er.

Wer als Tagelöhner keinen Erfolg hat, versucht sich mit dem Verkauf aus Jordanien geschmuggelter Zigaretten durchzuschlagen. Sie werden an den meisten größeren Kreuzungen angeboten, wo sich die fliegenden Verkäufer mit den Bettlern die guten Stehplätze streitig machen. Ebenfalls ein Sanktionsphänomen, bestätigen von den Bettlern bedrängte Autofahrer. Vor dem Golfkrieg waren Bettler in Bagdad eine Seltenheit.

Fast jeder hier träumt vom Tag X, an dem die Sanktionen aufgehoben werden. Abu Haidar plant bereits Großes für seine Näherei. Die kleine Fabrikhalle will er in den Hinterhof ausweiten und einige seiner alten Maschinen durch neue ersetzen. Abu Tarik will seinen Laden neu herrichten und einen Schuhladen eröffnen.

Viele Iraker haben das Land verlassen

Doch auch wenn die Sanktionen eines Tages wieder aufgehoben werden sollten, rechnen Experten mit mindestens zehn Jahren, die der Irak brauchen würde, um den Entwicklungsstand aus der Zeit vor dem Golfkrieg zu erreichen. „Die Infrastruktur“, sagt ein UN- Mitarbeiter in Bagdad, läßt sich reparieren. „Andere Schäden werden sich wohl nie wieder beheben lassen.“ Tausende hochqualifizierte Iraker haben das Land in den letzten Jahren verlassen. Da sie mittlerweile europäische oder amerikanische Pässe besitzen, ist es unwahrscheinlich, daß sie jemals wieder ins Zweistromland zurückkehren werden. Zurückgeblieben ist eine ganze Generation junger Iraker, die sich in sieben Jahren völliger Isolation vom Rest der Welt entfremdet haben. Und es ist diese Generation, die früher oder später die Geschicke dieses von Sanktionen zerstörten Landes lenken wird.

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