: Der Föderalismus wird verhandelt
■ Kanadas oberstes Gericht soll klären, ob die nach Unabhängigkeit strebenden Quebecer sich einseitig abspalten dürfen, wenn sie wollen
Washington (taz) – In Ottawa, der Hauptstadt Kanadas, hat vor dem obersten Gericht ein Prozeß begonnen, den die einen als Nonplusultra politischer Kultur und als Übung in Demokratie, die anderen als Anschlag auf die Volkssouveränität und obendrein als Mißbrauch der Justiz ansehen. Vor Kanadas oberstem Gericht wird diese Woche die Frage der Unabhängigkeit Quebecs verhandelt.
Man sucht nach Vergleichen: Man stelle sich vor, in zehn, zwanzig oder hundert Jahren kommen die Bayern zu der Auffassung, sie fühlten sich eigentlich nicht richtig wohl in der Bundesrepublik und wollten selbständig werden. Und nun ruft die Bundesregierung das Verfassungsgericht an, um klären zu lassen, ob der Wunsch nach Unabhängigkeit nationales und oder internationales Recht berührt. Der Vergleich hinkt natürlich, weil die Verfassungsrealitäten Deutschlands und Kanadas grundverschieden sind und weil das ethnische Element fehlt. Die Quebecer sind immerhin Franzosen, während die anderen Kanadier eher in der angelsächsischen Tradition wurzeln, so sie nicht Indianer sind.
Gemeinsam aber ist Kanadiern, US-Amerikanern und Deutschen die föderale Struktur ihrer Staaten. Und in Ottawa geht es diese Woche um eine Frage, die schon die Väter der deutschen und der US- amerikanischen Verfassung beschäftigte: Wieviel Souveränität treten die Länder, Bundesstaaten oder Provinzen an den Bund ab? Ist Föderalismus am Ende nicht ein Zwangsinstrument, das der Volkssouveränität widerspricht?
Die Quebecer machen geltend, daß sie nie einer Verfassung zugestimmt haben, die sie in eine Kanadische Föderation einbindet. Und 1995 unterlag ein Volksbegehren der Quebecer, aus dem Kanadischen Bund auszuscheiden, nur um Haaresbreite.
An dem Verfahren, das diese Woche vor dem obersten kanadischen Gerichtshof in Ottawa eröffnet wurde, ist alles ungewöhnlich. Normalerweise kommt es zu Gerichtsverfahren immer nur dann, wenn materielles Recht berührt ist, wenn es also wirklich um etwas geht. Man ruft Gerichte ja nicht in hypothetischen Fragen an. Genau das aber geschieht in diesem Fall. Das ist eine Besonderheit des kanadischen Rechts, das die Einholung einer nicht bindenden Meinung des Gerichts – nicht eines Urteils – ermöglicht.
Ungewöhnlich auch ist, daß Quebec, die gegnerische Partei, in diesem Prozeß selbst nicht vertreten ist, sondern einen Zwangsanwalt zugewiesen bekommen hat. Die Bundesregierung mußte – wie es der Vatikan bei den Verhandlungen um eine Heiligsprechung zu tun pflegt – einen Advocatus Diaboli beauftragen, der die Position Quebecs zu vertreten hat.
Die Regierung in Ottawa macht geltend, sie wolle das Ausscheiden der Quebecer gar nicht verhindern, sondern nur prüfen lassen, welche rechtlichen Konsequenzen eine einseitige Trennung Quebecs von Kanada hätte. Drei Fragen soll das Gericht klären: 1. Können nach kanadischer Verfassung Parlament, Nationalversammlung oder die Regierung Quebecs einseitig die Loslösung Quebecs beschließen? 2. Gestattet das Völkerrecht eine solche einseitige Loslösung Quebecs? 3. Sollten sich kanadisches Recht und Völkerrecht in dieser Frage widersprechen, welches Recht gilt dann?
Man fragt sich in der Tat, was die Beantwortung dieser Fragen zum Zusammenhalt Kanadas beitragen soll. Lucien Bouchard, der Premier Quebecs, hat schon erklärt, die Zukunft Quebecs gehöre den Quebecern und nicht der Regierung – und auch nicht den von ihr ernannten Richtern, die im Namen einer Verfassung urteilen, die Quebec nie anerkannt hat. Die ganze Übung mutete wie ein Schildbürgerstreich an, berührte sie nicht ein Problem, das über Kanadas Grenzen hinaus Bedeutung hat: Wann und unter welchen Umständen hat die Autorität einer Regierung über ihr Territorium Vorrang vor dem Recht auf Selbstbestimmung – und umgekehrt. Um die praktische Bedeutung dieser Frage zu ermessen, braucht man nicht den hypothetischen Fall Deutschlands zu bemühen, sondern kann auf solch sensible Krisengebiete wie das ehemalige Jugoslawien, Israel, die Golfregion und die Türkei verweisen, wo Gewährung oder Versagung von partikularen Selbstbestimmungsrechten anders als in Kanada über Krieg oder Frieden entscheiden. Peter Tautfest
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