: Hoffen auf eine politische Mystik
Die Theologin Dorothee Sölle hat ein furioses Buch über Alternativen zum Kapitalismus geschrieben: „Das stille Geschrei – Mystik und Widerstand“. Es ist auch eine Abrechnung mit dem Staatssozialismus ■ Von Rüdiger Runge
In den sechziger Jahren gehörte Dorothee Sölle in Köln zu den Begründerinnen der „Politischen Nachgebete“. Sie versuchte, „atheistisch an Gott (zu) glauben“, und ist eine der Protagonistinnen der feministischen Theologie. Nun hat sie eine Verbindung hergestellt, die so etwas wie die Summe ihres politischen Engagements und ihrer Gott-Suche bildet: „Mystik und Widerstand“.
Ein Blick zurück. 1968 wird Rudi Dutschke durch mehrere Kopfschüsse lebensgefährlich verletzt. Danach muß er sich sein Sprachvermögen von Grund auf neu aneignen. Es kommt dabei zu einer Situation, die der Psychologe Thomas Ehleiter in einer Gedenkrede auf Dutschke beschrieben hat: „In diesem Zeitabschnitt arbeitete Rudi auch an den Feuerbachthesen von Marx. Seine Aufgabe war zunächst wie bei allen Thesen, sie fehlerfrei zu lesen. Beim ersten Leseversuch der 11. Feuerbachthese: ,Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern‘, unterlief Rudi ein bemerkenswerter Fehler. Er las: ,Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sich zu verändern.‘ Als er auf den Lesefehler aufmerksam gemacht wurde, überlegte Rudi, ob nicht seine Lesart den Wert dieser These für sein politisches Handeln bereichern würde.“
In den siebziger Jahren, von US-Soziologen zum „Jahrzehnt des Ichs“ erklärt, haben viele zu dieser Lesart gefunden: Sie entdeckten für sich die Suche nach dem „wahren Selbst“ und nach authentischer Erfahrung in einer von Wettbewerb und Leistungsansprüchen dominierten Welt. Die doppelte Ausrichtung auf Selbst- und Weltveränderung war geradezu ein Markenzeichen der am Ende dieses Jahrzehnts aufbrechenden Alternativbewegung.
Die Formel von „Kampf und Kontemplation“ machte auch außerhalb christlicher Kreise die Runde. „Freiwillige Einfachheit“ und „Rückkehr zum menschlichen Maß“ waren Richtwerte für einen Wandel des persönlichen Lebensstils. In der Sorge um den Weltfrieden erhielt auch die Frage nach der individuellen Friedensfähigkeit hohes Gewicht. Vor allem die Ökologiediskussion erschloß vielen den Zugang zu spirituellen Dimensionen, indem die Zukunft des Planeten Erde mit der Frage nach der eigenen Einbettung in die Schöpfung verbunden wurde.
Natürlich zogen etliche sich bloß aufs Land zurück, bestellten in der Toskana oder in der Altbau-WG nur noch das eigene Seelengärtlein. Mit dem Esoterikmarkt blühte eine Konjunktur des Halbseidenen auf. Doch auch dahinter steht oft der subjektiv integre und ernsthafte Versuch, die Beschränktheit des Ego zu überwinden. Begleiter auf diesen Reisen in die Transzendenz wurden – nicht Priester, sondern Therapeuten mit einem reichhaltigen Seelsorgearsenal: Meditation, Traumarbeit, Hypnose, Atemtechniken usw. All dies bedeutet: Auf der Suche nach Ganzheit, Heilung und Heil für eine kranke Gesellschaft, Welt und Natur wurden Spiritualität und Religion neu entdeckt. Eine „sanfte Verschwörung“ im Zeichen des Wassermanns lasse ein „New Age“, ein „neues Zeitalter“, heraufziehen, verkündete die Amerikanerin Marilyn Ferguson. Das „Tao der Physik“ werde, so der Austro-Kalifornier Fritjof Capra in seinen Buchtiteln, zum „kosmischen Reigen“ in die „Wendezeit“ – eine andere freilich als jene, die Europa Ende der achtziger Jahre dann wirklich erlebte.
An vielen Erscheinungsformen zeitgenössischer New-Age-Spritualität fällt die seltsame Grund- und Bodenlosigkeit einer austauschbar wirkenden Instantmystik auf. Hier und jetzt wird das überwältigende – bei Dorothee Sölle: „entraffende“ – Erlebnis des Heiligen, des geheimnisvollen „ganz Anderen“ erwartet. Der geistlichen Gipfelerfahrung wie dem Bemühen darum fehlt die Verwurzelung in einer Tradition und gewachsenen Lebensgeschichte. Die spirituelle Orientierung ist nicht eingefügt in einen schlüssigen Existenzzusammenhang. Der erhebende Eindruck, den gregorianische Choräle auslösen können, verflacht beispielsweise zu spiritistischer Herzerwärmung, wenn diese als Versatzstücke einer synthetischen Popmusik benutzt werden.
Eine weitere Beobachtung betrifft ein eigentümliches Ich-Verhaftetsein bei jenen, die sich auf „moderne“ Weise dem Göttlichen zu nähern suchen. Während Mystiker eine Überwindung des Ich erstreben, trägt die heutige Schau nach dem Erhabenen häufig narzißtische Züge. Den Glanz des Göttlichen nicht zu verwechseln mit dem grellen Schein der Egomanie ist ein altes Problem jeder Mystik. In der christlichen Tradition – und auch bei Dorothee Sölle – wird es immer wieder diskutiert. Die augenblickliche Schnellerleuchtung zu erhoffen und es in dieser Erwartung mal beim Guru, beim Schamanen oder auch mal beim Zen zu probieren – das freilich ist ein neues Phänomen.
Es entwertet das vielfältige Bemühen um spirituelle Haltung und mystische Praxis nicht, auf solche Schwierigkeiten hinzuweisen. Nötig ist jedoch die Auseinandersetzung mit ihnen. Und hierin scheint mir der besondere Gewinn zu liegen, den Dorothee Sölles Buch christlichen und nichtchristlichen Suchenden nach religiös-mystischer Erfahrung bietet. Sölles in langen Jahren erarbeitete Botschaft ist der säkularen Welt und den Kirchen gleichermaßen ins Stammbuch zu schreiben: Das Christentum hat eine reiche – und keineswegs weltferne – Tradition der Mystik.
Sölle hält sich konsequent und systematisch an christliche Traditionen – und an den Chassidismus der Ostjuden als eine „Mystik des Alltags“. An etlichen Stellen des – nebenbei: glänzend geschriebenen – Buchs ist auch der Islam einbezogen, deutlich seltener fernöstliche Religionen. Gelesen aus dem Blickwinkel gegenwärtiger Geisteslagen, sind vor allem drei Aussagen des Buches bedeutungsvoll.
Erstens: „Wir sind alle Mystiker.“ Mystik ist keine Ausnahmeerfahrung von Erwählten, vielmehr stehen spirituelle Erfahrungen jeder und jedem offen. Sölle geht es darum, die mystische Erfahrung zu „demokratisieren“: „Mein Interesse ist nicht, die Mystiker zu bewundern, sondern mich von ihnen er-innern zu lassen und das Innere Licht täglich so deutlich wie nur möglich zu sehen: Es ist auch in mir versteckt.“
Zweitens: „Je weniger Gott, desto mehr Ego.“ Wir leben in einer zusehends gottvergessenen Zeit, in der sich das individuelle Ich zum Maß aller Dinge aufgeschwungen hat. Unsere westliche (Immer- noch-)Wohlstandswelt steht gottverlassen da unter der Herrschaft von Geld, Markt, Leistung, Wettbewerb und materiellem Erfolg. Diese Feststellung ist nicht ganz neu. In der Verknüpfung von Kontemplation und Kapitalismuskritik jedoch werden neue Facetten sichtbar, beispielsweise, wenn Sölle die unheilige Allianz von Globalisierung und Individualisierung analysiert oder wenn sie „das Scheitern des Staatssozialismus in einem tiefen Zusammenhang mit der Totalität seiner Absage an überkommene Kultur, Tradition und Religion“ sieht.
Drittens: „Mystik ist Widerstand.“ Das „stille Geschrei“ – mit dieser paradoxen Formel wird mystische Religiosität sowohl im Untertitel des Buchs als auch im Text immer wieder charakterisiert – führt geradezu zwangsläufig in eine Lebenspraxis des Widerstands. Denn auf die Mystik trifft mehr noch zu, was schon für eine kritische innerweltliche Selbsterfahrung gilt: „Mystik ist die Erfahrung der Einheit und der Ganzheit des Lebens. Mystische Lebenswahrnehmung, mystische Schau ist dann auch die unerbittliche Wahrnehmung der Zersplitterung des Lebens. Leiden an der Zersplitterung und sie unerträglich finden, das gehört zur Mystik.“ So Sölles Ehemann Fulbert Steffensky im gemeinsamen Vorwort.
Die These lautet also: Wer sich auf mystische Erfahrungen einläßt, wird nicht weltfremd. Mit aktivem Widerstand und tätigem politischen Engagement ist es derzeit allerdings nicht weit her. Da sollen es ausgerechnet die spirituell Aufgeweckten sein, die für neue Bewegung sorgen? Sölle glaubt: „Die Hoffnungsträger [...] sind Gruppen, die auf Freiwilligkeit, Kritikfähigkeit und eigene Initiative setzen. Diese Nichtregierungsorganisationen, zu denen ich auch die lebendigen Teile der christlichen Kirchen rechne, sind politisch gesprochen die Trägerinnen von Widerstand. Spirituell gesprochen verkörpern sie ein anderes Subjekt als das im Gefängnis des Konsumismus eingeschlafene.“ Sie fragt: „Was trägt sie? Was hält sie wach? Warum geben sie nicht auf? Ich denke, es sind Elemente von Mystik, die sich nicht auslöschen lassen.“
So ganz glaubt die Autorin wohl selbst nicht daran. Das legen mehrere Anmerkungen nahe. Bei einigen Initiativen, die sie als beispielhaft heranzieht, weist Sölle redlicherweise darauf hin, daß diese eigentlich säkularen Ursprungs seien. Die Rechnung „Mystik = Widerstand“ steht auf schwachen Füßen. Im Trend liegt sie schon gar nicht. Vor fünfzehn Jahren – zu Zeiten der Friedensbewegung –, da ließ sich diese Hoffnung durchaus hegen. Doch inzwischen ist der Basiseinsatz für Frieden, weltweite Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung auf kärgliche Reste geschrumpft. Zum anderen ist bei jenen, die sich noch engagieren, zweifelhaft, ob gerade Mystik die Kraft ist, die sie treibt.
Es führt kein Weg vorbei am schonungslosen Befund: Die Gegenwart ist kein Ort für Mahnwachenmystik – angesicht einer globalisierten Marktwirtschaft auf Kosten der Schwachen und im Zeichen von persönlicher Orientierungslosigkeit und Zukunftsunsicherheit. Wo also haben „Kampf und Kontemplation“ heute ihren „Sitz im Leben“? Vielleicht doch in den Kirchen?
Wundersamerweise wachen die Kirchen erst jetzt auf und nehmen den Wunsch nach Spiritualität zur Kenntnis. Dabei gäbe es keine geeignetere Instanz als sie, um das Fragen nach Gott oder dem Göttlichen einerseits und soziales wie politisches Engagement andererseits beieinander zu halten. Die katholische Kirche tut sich leichter damit. Aufrechten Protestanten, den calvinistisch geprägten „Reformierten“ zumal, ist „Erfahrungsreligiosität“ indes ein Greuel. Sie sehen darin eine Seelenschwelgerei, die sich nicht mit ihrem Verständnis von Gewissen und Weltverantwortung in protestantischer Freiheit verträgt.
Über diese Fragen müßte fruchtbar gestritten werden. Alle Seiten – und auch die, denen die Kirche fremd geworden ist – könnten daraus lernen. Einerseits täte es dem Protestantismus gut, die Nüchternheit seiner Gottesdienste und die Abstraktion seiner Wortgebundenheit um einen Hauch vom Fascinosum und Tremendum (Rudolf Otto) der Erfahrung des Heiligen zu bereichern. Andererseits müßte auch zur Sprache kommen, wo für evangelische ChristInnen Grenzen liegen, an denen der Geist Gottes und die Geister der kosmischen All-Gegenwart sich scheiden.
Jede Religion, das legt Dorothee Sölle dar, hat neben – und noch vor – dem mystischen ein institutionelles und ein intellektuelles Element. Aus ihnen ergeben sich die kritischen Punkte und Fragen. Explizit oder implizit werden sie auch in ihrem Buch behandelt: Wo bleibt der skeptische Verstand? Wie steht es um die Verbindlichkeit in Glaubenspraxis und Teilhabe am Leben der Gemeinde und an der Gemeinschaft der Kirche? Welches Verhältnis haben spirituell Suchende zu Leiden und Schuld, auf die das zentrale christliche Symbol, das Kreuz, verweist?
Für die Kirchen gibt es also gute Gründe, ihr Mäntelchen nicht einfach in den Wind des spirituellen Großmarktes zu hängen. So sehr von den Kirchen größere Offenheit zu verlangen ist, sollten sie dabei ihr „Eigentliches“ nicht preisgeben, indem sie sich ohne Sinn und Profil der Nachfrage beugen, als sei die Kirche das „Unternehmen“, das heutzutage manche gern aus ihr machen möchten.
Beim Ringen um geistliche Erneuerung sollte der Blick sich richten auf die – eigene! – Tradition. Was von ihr ist zu bewahren – oder neu zu gewinnen? Etwa: dem Tag und der Woche einen Rhythmus geben. Es bedarf keiner klösterlichen Stundengebete, um Zeiten der Ruhe, Besinnung und Einkehr zu finden. Ein Tag des Sabbats, den Sonntag heiligen – das reicht. Für den Anfang ist es „mystisch“ – und übrigens auch „politisch“ – genug.
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