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Volltischler und Leertischler Von Barbara Häusler

„Die Ordnung ist die Lust der Vernunft, aber die Unordnung ist die Wonne der Phantasie“: Diese tröstlichen Worte für alle um Ordnung Ringenden dieser Welt von Paul Claudel hatte mir einst eine schlampige Schwester im Geiste ins Poesiealbum geschrieben. Und Claudel, fand ich, hat ja wohl mindestens genausoviel zu sagen wie Schiller („Nach seinem Sinn zu leben ist gemein, der Edle strebt nach Ordnung und Gesetz“; ebenfalls Poesiealbum), auf jeden Fall aber mehr als meine Mutter. Nun wußte ich endlich, zu welcher Seite ich gehörte, außerdem wurde mir damals klar, daß meine Mutter leider schizophren sein muß. Denn während sich in ihrem Kleiderschrank Gebügeltes aller Art stets akkurat stapelt, herrscht in ihren Küchenschränken – hier besonders: Schubladen – seit ich denken kann, unfallträchtige Anarchie.

Ordnungssysteme, begriff ich, lassen also sehr schöne Rückschlüsse auf ihre Anwender zu. Da ich mich bei anderen Leuten aber nur ungern beim Inspizieren ihrer Schränke erwischen lasse, spezialisierte ich mich auf Schreibtische, die schließlich nicht weniger sind als die Schnittstelle zwischen privatem Sein und öffentlichem Schein.

Grob gesagt lassen sich Schreibtischbesitzer in zwei Gruppen einteilen: die Volltischler und die Leertischler. Wir beginnen mit den Leertischlern. Leertischler sind allesamt Neurotiker, die glauben, sie könnten mit dem Arbeiten erst beginnen, wenn ihr Tisch (fast) leer ist. Die Fast-Leer-Typen pflegen zwanghafte Arrangements mit übersichtlich angeordnetem Arbeitsgerät, das sie überhaupt nicht brauchen, mit tischtauglichen Rabatten (dankbar: Kakteen) oder Vertraulichkeit suggerierendem Nippes. Der Ordnungssinn der Ganz-Leer-Typen ist dagegen häufig nichts anderes als eine Arbeitsvermeidungsstrategie – gern dehnen sie ihre Schreibtisch-Räumarbeiten auf Haus- oder Büroreinigungstätigkeiten aus. Hier weiß ich mehr denn je, wovon ich rede, durchlebte ich doch während meiner Diplomarbeit eine solche Phase: Nie mehr wieder war meine Wohnung sauberer und aufgeräumter (und mein Klavierrepertoire hatte sich auch erweitert).

Bei den Volltischlern wird's naturgemäß komplexer. Trotzdem verbindet all ihre Untergruppen ein typisches Merkmal: die freiwillige und systematische Verkleinerung der zur Verfügung stehenden Arbeitsfläche. Zu unterscheiden sind hier zunächst die Turm- und die Mauerbauer, beide Stapler. Erstere gehen – grundsätzlich an den Tischrändern – in die Höhe, letztere – schreibtischmittezentriert – in wehrhaft wirkende Breite. Im Endstadium kann aber auch der Mauerbauer vollständig hinter Türmen verschwinden.

Eine zahlenmäßig kleine Spezialgruppe arbeitet nach dem sog. Streuprinzip. Sie verteilt anfallende Materialien spiralförmig auf und um ihren Arbeitsplatz. Dessen lichte Höhe wächst deshalb innerhalb kürzester Zeit flächendeckend um gut und gerne 30 bis 40 Zentimeter, und erst wenn der Bürostuhl sich nicht weiter hochdrehen läßt und der Schreibtischbesitzer definitiv bergauf schreiben muß, kommt es zu ausbruchsartigen Wegwerfaktionen. Arbeiten ein Normaltischler und ein Streutischler in einem Raum, kann das nicht gutgehen. Denn Streutischbesitzer müssen irgendwann notgedrungen auf Kollegentische... He, nimm das sofort wieder weg!

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