: Das Sanierungswunder
■ Der Euro lockt, und die Regierungen der meisten Mitgliedsstaaten der EU haben ihren Ländern einiges abverlangt, um die Kriterien für ein Ticket zur Europäischen Währungsunion einzuhalten. Gestern lagen die Konvergenzberichte von elf EU-Mitgliedern komplett vor: Alle Teilnahmewilligen blieben unter der 3-Prozent-Marke. Der deutsche Wirtschaftsminister konnte stolz den Traumwert von 2,7 Prozent Neuverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt verkünden. Aber um welchen Preis? Bezahlt haben die Kanken die immer mehr für ihre Medikamente drauflegen müssen. Bezahlt haben auch die Arbeitnehmer durch steigende Rentenversicherungsbeiträge. Und für Schienen, Gebäude und Schulen ist auch nichts mehr da.
Es gibt elf Sieger. So lautet die Botschaft, die die zum Euro strebenden Regierungen aus den gestern veröffentlichten Statistiken herauslesen. Alle Teilnahmewilligen blieben unter der Dreiprozentmarke für die Neuverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). Sie war zum entscheidenden Kriterium für ein Ticket zur Europäischen Währungsunion hochstilisiert worden.
Beim Gesamtschuldenstand sieht es zwar vielerorts weitaus schlechter aus. Doch der Maastricht-Vertrag fordert – genau wie bei der Neuverschuldung auch – keine Punktlandung. Entscheidend ist vielmehr, daß sich der Wert „rasch genug“ den angestrebten 60 Prozent des BIP nähert. Deutschland muß hier zwar 61,3 Prozent einräumen – mit Tendenz in die falsche Richtung. Aber solche Marginalien werden angesichts fast doppelt so hoher Defizite anderswo bei den Euro-Verhandlungen keine Rolle spielen.
1996 lag die Neuverschuldung hierzulande noch bei 3,4 Prozent. Gestern konnte Theo Waigel den Traumwert von 2,7 verkünden. Dafür bezahlt haben zum einen die Kranken, die mehr für ihre Medikamente drauflegen müssen und weniger Krankengeld bekommen. Und auch die höheren Beiträge für die Rentenversicherung haben die öffentlichen Kassen entlastet. Zum zweiten haben Bund und Gemeinden massiv an Gebäuden, Schienen, Stühlen und Schulkreide gespart. Seit fünf Jahren streicht der Staat die Ausgaben für Investitionen zusammen. Nicht nur keynesianisch orientierte Ökonomen sehen hierin ein Problem für den schlappen Inlandsmarkt. Auch die Bundesbank übt massive Kritik: „Diese Entwicklung ist mit dem Erfordernis einer qualitativen Konsolidierung nicht vereinbar.“
Außerdem hat allein der Bund etwa 5,4 Milliarden Mark durch Privatisierungen eingenommen – und verfrühstückt. Günstig für Waigel erwies sich auch das niedrige Zinsniveau. Dennoch sind Deutschlands Ausgaben für den Schuldendienst noch einmal um 3,1 Prozent gewachsen. Positiv für die Optik sind außerdem die Kriterien der Euro-Statistiker: Sie rechnen die Investitionen für staatliche Krankenhäuser nicht mit. Auf diese Weise fällt das deutsche Defizit um etwa fünf Milliarden Mark geringer aus als nach herkömmlicher Berechnungsmethode, schätzt das HWWA-Institut für Wirtschaftsforschung Hamburg.
Die meisten Wirtschaftsexperten in Deutschland gehen zwar davon aus, daß die gestern veröffentlichten Zahlen nicht durch Tricks geschönt wurden. Doch aus ökonomischer Sicht lehnen fast alle die Dreiprozenthürde als Maßstab für einen erfolgreichen Euro ab. Annette Jensen
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