■ Vom Nordpol über Feuerland ins „Guinness Buch der Rekorde“
: Nackedei auf Weltreise

„Ich bin ein Spätzünder“, sagt Gisbert Büge. Vor rund dreißig Jahren erst hat er seine wahre Leidenschaft entdeckt, und zwar das Nacktsein. Der mittlerweile 71jährige Ostberliner ist „Deutschlands vielseitigstes Aktmodell“. Diesen Titel verlieh ihm jedenfalls das „Guinness Buch der Rekorde“, weil er nachweislich Zeichnern aus 47 Nationen Modell gestanden hat. Jawohl, nachweislich. Denn jeder Akt muß von drei Zeugen bestätigt werden. Gisbert Büge ist studierter Datenverarbeitungsökonom, und so kam er nie durcheinander mit all den Ländern und Leuten.

Um den kuriosen Rekord aufzustellen, ging der nackte Kosmopolit auf Weltreise. Sponsoren für sein Projekt fand er zwar keine, aber bereitwillige Zeichner zuhauf. Gisbert Büge meldete sich entweder bei den Kunsthochschulen an, oder er bat, in Grönland oder am Amazonas zum Beispiel, begabte Mitreisende um ein Artefakt – auch während der Fahrt: Im Flugzeug, 11.000 Meter über dem Pazifik, zeichneten ihn sogar vier Passagiere gleichzeitig.

Ans Aufhören mit dem Ausziehen denkt Gisbert Büge keineswegs. Als ich ihn neulich bei einer Aktstunde in der Berliner Hochschule der Künste (HdK) besuchte, war er hoch erfreut, soeben einem Studenten aus Kurdistan begegnet zu sein: Der Nacktstar will seinen eigenen Rekord brechen.

Wenn Gisbert Büge sich nicht zeichnen läßt, kümmert er sich um Flüchtlinge und ältere Menschen in der Nachbarschaft – von Egomanie und Exhibitionismus keine Spur. Und als überzeugter FKK- Anhänger errötet er selbstverständlich nicht, wenn er im Adamskostüm von einer jungen Eva aufs Papier gebannt wird. Und falls sich doch etwas regt? „Na, dann denke ich einfach an den Satz des Pythagoras“, erklärt Büge.

Der rüstige Rentner ist bei den Kunststudenten beliebter als junge Modelle mit glattem Idealmaßkörper – Falten sollen inspirieren. Doch ein Aktmodell muß auch 20 bis 40 Minuten stillsitzen können. „Das macht nicht jeder Kreislauf mit. Manche fallen nach zehn Minuten einfach vom Stuhl“, berichtet HdK-Professor Peter Müller. Meister Büge ist bislang noch nie umgekippt, und schummrig ist ihm nur einmal geworden. Trotz Rückgratbruch und Zipperlein steht er bewegungslos wie eine Marmorstatue auf dem Podest im Zeichensaal.

Der weitgereiste Nackedei hat ein bewegtes Leben hinter sich. In Mexiko wurde er geboren, dann ging's nach Europa, vor dem spanischen Bürgerkrieg floh seine Familie nach Deutschland, das Vaterland schickte ihn gleich an die Ostfront. Nach einem dreijährigen Zwangsaufenthalt hinterm Ural ging es schließlich zurück in die sozialistische Heimat.

Als Gisbert Büge in der DDR eine Modellvermittlung aufmachen wollte, verboten ihm die Genossen allerdings das kleine Gewerbe. Seine hartnäckigen Schreiben an das Zentralkomitee der SED nervten die ostzonalen Wirtschaftsprüfer dermaßen, daß die Staatssicherheit ihm jahrelang auflauerte.

Noch heute verfaßt Büge böse Briefe, wenn es sein muß: Bei der „Guinness“-Redaktion beschwerte er sich etwa über den falsch formulierten Eintrag ins Rekordebuch. Denn dort wird doch glatt behauptet, Gisbert Büge sei „gemalt“ worden, dabei wurde er meist nur „gezeichnet“.

Zuweilen greift das Aktmodell selbst zu Stift und Pinsel. Büge malt ausschließlich mit Ölfarben: „Fürs Zeichnen fehlt mir die ruhige Hand.“ Da seine Frau den Schmutz des Laienkünstlers im Hause nicht mag, muß Büge auf den Sommer warten. Erst dann kopiert er im Garten seines Vorstadtbungalows Landschaftsfotos fürs Wohn- und Schlafzimmer. In diesem Jahr sind die Osterinseln dran.

Wenn es Gesundheit und Geldbeutel zulassen, will Gisbert Büge demnächst seinen nächsten Abenteuerurlaub als Aktmodell starten. Unter anderem auch, „um wieder einmal einige Kilos abzunehmen“, gibt er zu. Ein wenig eitel ist der Nacktrekordler nämlich schon. Carsten Otte