: Zäsuren
Der Umzug des Antiquars ■ Von Gabriele Goettle
Eines Nachmittags rief der Antiquar an. Seine Stimme klang aufgeregter als gewohnt, er fragte, ob wir vielleicht zwei Kanarienvögel möchten, bedauerte, daß wir keine Kanarienvögel möchten und fügte nach kurzem Zögern fast stotternd hinzu, er habe eine Bitte, ob wir einen Koffer und ein paar kleine Kartons von Tiergarten nach Neukölln fahren könnten, seine Lebensgefährtin sei nämlich gestorben, er müsse die Wohnung verlassen. Nach ein paar tröstenden Worten verabredeten wir uns für den nächsten Tag. Der Antiquar hatte bisher nur andeutungsweise von seinen häuslichen Verhältnissen gesprochen. Er packte bei den diversen Armenausspeisungen stets hamsterartig Kuchen, Wurstbrote, Brötchen, Eier und Obst in kleine Plastikbeutel ein, die er in den Gemüseabteilungen der Supermärkte kostenlos besorgt hatte, und ließ alles in seiner unergründlichen Tasche verschwinden. Von der Kleiderverteilung kam er manchmal mit einer Bluse, einem Nachthemd oder einer schönen Strickjacke zurück und sagte zur Tischrunde mit leichter Verlegenheit: „Für meine Frau Prater.“ Es wurde gemunkelt, er pflege eine alte Dame, weil er eine Erbschaft erwarte, es wurde gemunkelt, er habe keine Wohnung und schlafe bei der bettlägerigen alten Dame heimlich auf dem Sofa. Es wird einiges gemunkelt, in den Suppenküchen der Armen, der Umgang ist zwar oft innig in den Momenten der Begegnung, erstreckt sich aber kaum auf das Privatleben.
Zur vereinbarten Zeit treffen wir den Antiquar beim Schloß Charlottenburg. Er steht ein wenig krumm da, mit seiner obligaten Hamstertasche, streicht sich über die weiße Bürstenfrisur und hat ein trauriges Fuchsgesicht. Zur Begrüßung lächelt er tapfer und fällt beim Einsteigen fast wieder hinaus. Wir halten ihn fest, ich ziehe den Sicherheitsgurt um seine Brust, Elisabeth nimmt ihm die Tasche vom Schoß. Er kichert und sagt: „Ach, ich war doch mal in Bayern früher, mit der Frau Prater, im Schloß Hammersbach, da war ein Hund, so ein Schäferhund, und wißt ihr, was mit dem war? Der machte immer das Maul auf, aber es kam nichts raus. Er konnte nicht mehr bellen, weil sie ihm die Stimmbänder durchtrennt hatten; vielleicht deshalb, damit er die Nachbarn und Gäste nicht stört. Na, ja – so, jetzt an der Ampel links bitte –, solche Sachen gehn oft schnell, innerhalb kürzester Zeit. Ich fand sie auf dem Boden, als ich nachmittags nach Hause kam. Sie lag da und konnte nicht mehr sprechen, ich habe sofort die Feuerwehr angerufen, die kamen und nahmen sie gleich mit auf einer Tragbahre. Schlaganfall.
Wie lange sie da gelegen hat, weiß keiner. Ich bin am Vormittag aus dem Haus gegangen, da war alles noch in Ordnung – vorne müssen wir dann rechts einbiegen, in die Mierendorffstraße. Ich hab' ihr dann am nächsten Tag die ganzen notwendigen Sachen zusammengesucht, Nachthemden, Unterwäsche, Waschzeug, Gebißreiniger, ein Radio von mir, den Wecker, und hab's ins Krankenhaus gebracht. Da lag sie im Koma und brauchte das gar nicht. Nach ein paar Tagen kam sie wieder zu sich, und als sie mich erkannte, da wollte sie gleich wieder mit nach Hause. Aber das ging ja nicht. Ich habe sie die ganzen Jahre gepflegt, so gut es ging, aber jetzt war sie richtig bettlägrig, konnte nicht mehr aufs Klo und nichts, brauchte den ganzen Tag Betreuung... Sie hatte ja schon mehrere Schlaganfälle gehabt, aber dieser war am schlimmsten – so, jetzt wieder rechts in die Kaiserin-Augusta-Allee und dann immer nur geradeaus. Der Arzt im Krankenhaus hat gesagt, sie hätte zuwenig getrunken, sei vollkommen ausgetrocknet gewesen. Ich versteh' das gar nicht, ich hab' ihr immer angeboten, Tee und Mineralwasser, das habe ich auch immer hochgeschleppt, die ganzen Treppen. Sie hat viel geschlafen, war den ganzen Tag im Bett meistens. Manchmal ist sie aufgestanden und hat sich ein bißchen frisch gemacht, ein bißchen Geschirr gespült, ein bißchen ferngesehen. Als sie dann vom Krankenhaus ins Pflegeheim kam, wollten sie dort gleich zweitausend Mark an Pflegekosten von ihr haben. Ich sagte nein, denn wenn einer schwerkrank ins Heim eingewiesen wird, dann zahlt die Kasse dreitausendfünfhundert Mark, das wußte ich, plötzlich hieß es dann, nur noch vierhundert Mark muß sie zuzahlen. Der einzelne Mensch ist in der Bürokratie ganz verloren, wenn er sich nicht mehr helfen kann. Sie ist dann, als sie merkte, daß sie nie mehr nach Hause zurückkehren wird, ganz schnell gestorben. Hinterher fehlten ihre Zähne, und auch das kleine Radio war angeblich nicht mehr zu finden. Das Radio war meins, es war nicht billig, Rechnung kann ich vorlegen. Sie hatte ja zuwenig Bewegung, zuwenig frische Luft. Früher waren wir viel unterwegs. In der Wohnung ist kein Bad. Zwei Zimmer, Küche, Innenklo, fertig. Dreihundertzweiundneunzig Mark Miete, kalt. Deshalb sind wir früher immer zum Baden gefahren. In den ersten Jahren zu mir in die Wohnung raus, später dann ins Arminiusbad, da hat man fünf Mark bezahlen müssen, bei medizinischen Bädern mußte man sogar zwanzig Mark zuzahlen. Wer kann sich das leisten? Und dann wurde es ja immer schlechter mit den Beinen, sie kam die Treppen kaum noch hoch, also ging sie gar nicht mehr runter. Viele alte Leute wohnen so, im obersten Stock, ohne Aufzug, ohne gescheite Heizmöglichkeit, ohne Bad, die kommen erst mit den Füßen voran wieder mal auf die Straße runter.
Ich hab' mich gekümmert – was sollte ich denn machen, man kann doch nicht einfach weggehen –, die Wäsche gemacht, eingekauft, ich hatte ja viele Geschwister, wir mußten zu Hause alle mithelfen – jetzt rechts und dann gleich wieder die nächste links –, der Amtsarzt, der sie damals untersuchte, hatte Pflegestufe drei bewilligt, aber die Kasse hat das nicht anerkannt, da wurde noch mal geprüft, und sie haben es nicht bewilligt. Vielleicht haben sie gedacht, da ist ja einer, der versorgt sie umsonst, der kümmert sich, also ist sie nicht hilfsbedürftig. Kein Wunder, daß die Pflegekasse diese hohen Gewinne macht, wenn sie dem Bürger die Leistungen vorenthält. Jetzt sind wir in der Levetzowstraße, gleich sind wir da. Dort vorne übrigens, rechts, da ist das Mahnmal, von dem ich neulich erzählt habe, wir kommen jetzt nicht vorbei, aber ihr müßt es euch unbedingt mal anschauen. Es stellt einen Eisenbahnwagen dar, das Dach und der Unterteil mit Puffern ist aus Eisen, dazwischen der Teil ist aus weißem Marmor, man sieht so einen angedeuteten Arm aus Stein, man sieht eigentlich kaum was, aber man hat den Eindruck, daß da Leute im Wagen zusammengedrückt werden von allen Seiten. An der Stelle stand mal die Synagoge, 1941 haben die Nazis da drin eine Sammelstelle zur Deportation der Juden eingerichtet – und stellt euch mal vor, das Mahnmal kam erst ein Jahr vor der Wende da hin. So, da kannst du einparken, hier ist direkt mein Hauseingang.“
Wie in den alten und renovierten Berliner Mietshäusern üblich, ist das gesamte Treppenhaus mit einem muffig riechenden, graubeige abgetönten Billiglack gestrichen. Auf den Namensschildern stehen deutsche und türkische Namen. Je höher wir steigen, um so langsamer wird der Antiquar, er schleudert mit einem routinierten Schwung seine Tasche von Stufe zu Stufe und klettert hinterher. Oben angekommen, schließt er, schwer atmend, mit leicht zitternden Händen in mehreren Schlössern die Tür auf und bittet uns hinein. Wir treten in einen kurzen, schmalen Flur, auch hier riecht es muffig, aber ein wenig organischer als im Treppenhaus. Der Antiquar macht Licht und sagt: „Guckt mal, das hat alles ihr Mann selbst gemacht, die ganze Verlegung der Leitungen, die Beleuchtung, er war Elektriker und überhaupt handwerklich sehr geschickt, was ich ja nicht bin, leider. An der Wand hängt ein Spruch, den Elisabeth sofort nach dem Lesen abschreibt. „Sag es auch dem Mütterlein: / Soll der spätre Lebensabend ohne Lebenssorgen sein / Gib Du die erworbnen Güter nicht zu früh den Kindern ab / Sonst wirst Du zu ihrem Sklaven und sie wünschen Dich ins Grab / Wer besitzt, den wird man achten, Kindesdank ist Seltenheit / Brot zu betteln ist verachtet, Brot zu geben Seligkeit.“ „Das hat sogar gestimmt“, sagt der Antiquar, „die beiden Pflegetöchter Angelika und Christine, die kannten auch keinen Kindesdank, die kamen nie, und dann wollten sie das Konto plündern. Frau Prater hatte sie adoptiert, denn sie konnte irgendwie keine Kinder kriegen, wegen einer Bauchhöhlenschwangerschaft, die sie mal hatte.“ Dann deutet er auf einen gepolsterten Stuhl mit rokokoartigen Beinen und ovalem Rückenteil: „Das soll angeblich ein Stück aus dem Besitz der Hohenzollern sein. Der Mann hat mal ein ganzes Zimmer bei jemandem renoviert, und dafür hat er dann den Stuhl bekommen, an Stelle des Geldes, ach ja, und noch einige Sektkelche. Ich glaube ja nicht, daß der echt ist. Hätte er lieber mal Geld gefordert, aber nun ist es zu spät.“
Er führt uns ins Wohnzimmer, deutet in die Runde und sagt: „Hier habe ich die vergangenen sieben Jahre gewohnt, mehr oder weniger. Ich hab' ja eine eigene Wohnung, eineinhalb Zimmer, mit Bad, Küche, Zentralheizung und Aufzug sogar. Was für ein Glück, daß ich sie all die Jahre über behalten und bezahlt habe, sonst würde ich jetzt auf der Straße liegen, müßte ins Obdachlosenheim für Männer einziehen.“ Das Wohnzimmer sieht aus wie ein kleinbürgerliches Kuriositätenkabinett. Es wird beherrscht von Wänden voller Zierat und Andenken, wie schmiedeeiserne Efeublätter, leuchtende Nikoläuse, Spruchtäfelchen und Schnitzereien, einer bis zur Decke reichenden Blattpflanze; Kommoden voller Nippes und einem Sofa, das fast unter farbenfroh gehäkelten und bestickten Kissen verschwindet. Der Antiquar nimmt eines hoch, es ist mit dem Motiv Wolf und Rotkäppchen bestickt in kleinen Stichen. Mit einem Anflug von Stolz sagt er: „Das hat Frau Prater selbst gemacht, vor sechzig Jahren, da war sie damals zweiunddreißig Jahre alt“, und auf ein paar Fotos deutend, „das war ihr Bruder Willi. Und das ist Frau Prater, als sie noch jung war, und der ist ihr Mann, der Elektriker, er hatte nur noch eine Lunge. Sie hat ihn auf der Lebensmittelkartenstelle kennengelernt. Sie war ja Rote-Kreuz- Schwester, auch dann im Krieg. Alle beide waren keine Nazis, ich hab' sie mal gefragt, sie waren kleine Mitläufer, aber Verwandte waren bei der SS. Ab und zu hat sie mal gesagt: ,Früher herrschte mehr Ordnung und Sicherheit'. Und diese ganze Ansammlung hier, die ist im Laufe von fünfzig bis sechzig Jahren entstanden, zu jedem Stück konnte Frau Prater eine Geschichte erzählen. Diese Holzschwalben hier, die sollen von gefangenen Russen gemacht worden sein, na, ich gehe mal einen Tee kochen, ich bin ein schlechter Gastgeber, entschuldigt. Schaut euch nur um, und wenn ihr irgendwas haben wollt, bitte.“
Wir lehnen dankend ab und schaun uns um. Ein leises Geräusch lenkt meine Aufmerksamkeit auf zwei weiße Vogelkäfige an der Wand. Zwei Kanarienvögel, gelblichgrau, sitzen sich auf ihren Stangen Aug' in Aug' gegenüber, unter ihren Schwänzen türmt sich je ein getrockneter weißlicher Kegel aus Kot. Sie schweigen. Ihre stecknadelkopfgroßen schwarzen Augen funkeln, dann sinken langsam die Nickhäute herunter, bis die Vögel wieder aufschrecken und auf ihren Stangen zwei Millimeter zur Seite rücken. Sie wirken ganz heimatlos, so ohne Eigentümer und in einer Atmosphäre der Auflösung aller gewohnten Vorgänge. Die sie umgebenden Erinnerungsstücke scheinen auch mit jedem Moment blasser zu werden. Der Rauchverzehrer in Hundeform steht untätig im Staub, die Zierteller und Tassen, die Väschen mit Grüßen aus fernen Ferientagen werden bald in Scherben liegen. Da ist eine Muschel, sie ähnelt der, die ich an mein Kinderohr preßte, um das Rauschen des Meeres zu hören. Auch das Muschelkästchen fehlt ebensowenig wie die Keramiksouvenirs von den Italienreisen der fünfziger Jahre. Es gibt Verschiedenes aus dem Schwarzwald, Kuckucksuhr und Schwarzwaldpuppe sind die Prunkstücke. Abgewetzte Steifftiere mit verschossenen Webpelzen stehen zwischen ehrwürdigeren Sammelstücken und erinnern, nur noch kurze Zeit, an die undankbaren Pflegetöchter.
Die meisten Dinge sind aus gediegenen Materialien, hier finden sich nur einige Souvenirs aus den Anfängen der Plastikkultur. In einem Regalfach des Schrankes steht neben Zierkerzen und Väschen eine alte Glastiersammlung mit Rehen, Pinguinen, Schwein und Storch, gleich daneben, aufgeklebt auf einen Karton, ein merkwürdiges Gerät, über das ein angelehntes Kärtchen Auskunft gibt: „Mein erster Herzschrittmacher“. Je länger ich hinschaue, um so klarer scheint mir das anfängliche Gewimmel zu werden. Von den gebildeteren Klassen verachtet, teils aus Unkenntnis, teils weil die Aufgestiegenen jeden Kontakt zu dieser Art des Kitsches meiden, führen die Andenken ihr seltsames Leben meist auf dem ihnen zugewiesenen niedrigen Niveau. Sicher zu Unrecht. Es geht hier gar nicht um Schönheit, ums Einzelstück, um Seltenheit. Im Gegenteil, an der industriell gefertigten Massenware macht gerade ihre Massenhaftigkeit die besondere Qualität aus. Wie die Hieroglyphen an der Wand des Pharaonengrabes Auskunft geben über das Leben des Verstorbenen, so geben die Souvenirs Auskunft über ihren Besitzer zu dessen Lebzeiten. Jeder, der sie kennt aus eigener Anschauung, liest mühelos von den Wänden ab, wann und wo der Besitzer herumgekommen ist in der Welt. Auch für ihn selbst genügt ein Blick, und die Andenken oder Gedächtnisstützen führen Detail oder Zusammenhang vor Augen. In den Souvenirs sind die außergewöhnlichen Momente registriert, die Entfernungen aus dem alltäglichen Lebensmittelpunkt – sei es nun durch Ferienreisen oder schwere Krankheit. Der Herzschrittmacher im Regal für Zierat wirkt nur auf den ersten Blick deplaziert. Bei diesem Wohnzimmer handelt es sich nicht, wie ich anfangs meinte, um ein Kuriositätenkabinett, sondern viel eher um eine Asservatenkammer, in der die Beweisstücke der Erinnerung sorgsam verwahrt werden. Doch nun sind sie wirkungslos geworden, Andenken, an die sich keiner mehr erinnert.
Der Antiquar kommt zurück mit dem Tee, bläst in die Tassen und schenkt ein. Dann deutet er auf eine Stelle des Teppichs und sagt: „Da ist sie hingefallen und nicht mehr hochgekommen. Frau Prater war eine ganz ausgeglichene und ruhige Frau, sympathisch. Sie war ja schon fast dreiundneunzig. Ich hatte sie damals auf eine Annonce hin kennengelernt, da hat sie sich um zwölf Jahre jünger gemacht, sie sah auch jünger aus, aber trotzdem, von Sexualität wollte sie nichts mehr wissen, leider. Ich habe das akzeptiert, trotzdem war sie eifersüchtig. Mal hatte ich ihr eine teure Merinounterwäsche geschenkt, Hemden und Schlüpfer, das war von meiner verstorbenen Lebensgefährtin, aber alles vollkommen unbenutzt. Die wollte sie nicht, die Sachen, die hat sie zerschnitten. Als ich sie kennenlernte, war der Mann schon eine Weile tot. Er war zuletzt bei der Landesbildstelle, da hatte er sich hochgearbeitet, vom Pförtner bis ins Büro hinauf. Er hat ihr eine ziemlich kleine Witwenrente hinterlassen.“ In die Stille hinein flötet der Kanarienvogel plötzlich eine kurze, variantenreiche Tonfolge und verstummt. Der Antiquar zuckt mit den Schultern und sagt: „Die heißen Momper und Gysi, so habe ich sie damals getauft. Jetzt sind sie fünf Jahre alt, zehn bis zwölf Jahre werden sie. Ich hab' hin und her überlegt, ob ich sie behalten soll, aber dann sind sie den ganzen Tag allein. Die brauchen aber Zuspruch, Pflege, Futter, nun hab' ich eine Annonce aufgegeben, daß ich sie umsonst in gute Hände abgebe. Ich hatte ja auch mal zwei Vögel, ein Nymphensittichpärchen, die waren sehr zutraulich und gescheit. Sie sind beide kurz hintereinander gestorben, und weil ich so traurig war und damals in der Fehlerstraße, neben dem Friedhof wohnte, hab' ich sie würdig beerdigt im Grab von Marlene Dietrich. Wißt ihr, was auf dem Grabstein steht? „Hier steh ich an den Marken meiner Tage – Marlene. 1901-1992“.
Wir bringen die Teetassen in die Küche. Dort zeugen Essensreste, verkrustete Töpfe und etwas schmutziges Geschirr davon, daß man es aufgegeben hat, die täglichen Spuren des Lebens zu beseitigen. „Wollt ihr noch einen Blick ins Schlafzimmer werfen, bevor wir gehen?“ fragt der Antiquar und öffnet eine der Türen am Ende des Flures. Im goldenen Licht der Nachmittagssonne steht das verlassene Ehebett mit zerdrückten Kopfkissen und einer leichten Mulde auf jeder Seite. Es ist mit grünlicher Bettwäsche bezogen. Läufer liegen ums Bett herum, eine Spiegelkommode steht nah beim Fenster, zwei große weiße Schlafzimmerschränke stehen beiderseits der Tür. „Das hier ist ihr Fußwärmer, den hat sie sogar mit ins Bett genommen“, sagt der Antiquar und schiebt ihn mit dem Fuß zur Seite. An der Wand hängen Sperrholzzwerge mit Zipfelmützen, die Laubsägearbeiten der Pflegetöchter. „Gehn wir lieber“, sagt der Antiquar, tritt in den Flur hinaus und zeigt auf Koffer und Kartons, „das sind meine privaten Sachen und die paar Lebensmittel, die noch da waren, sonst rühre ich nichts an von allem hier. Genommen habe ich mir nur die Weingläser, die schenkte sie mir mal. Am Wochenende muß ich noch mal herkommen, wegen der Vögel. Dann schicke ich die Schlüssel per Einschreiben an die Hausverwaltung, Telefon und Strom ist auch schon abgemeldet.“
Wir verstauen die Habseligkeiten im Auto und fahren in den Südosten der Stadt, nach Buckow, in eine Wohnblocksiedlung aus den siebziger Jahren. Die Straßen haben Vogelnamen, die Grünanlagen wirken gepflegt. Wir fahren mit dem Aufzug nach oben, werden in eine staubige Wohnung geführt, die mit einfachen Möbeln aus den sechziger Jahren spärlich möbliert ist. Die Teppiche sind abgetreten, die Fensterscheiben trübe, im Flur türmen sich Kartons. Die kleine Wohnung wirkt wie ein Bau, eine Höhle, in der die Beute und der Vorrat gelagert werden. Der Antiquar offeriert uns vom mitgebrachten Mineralwasser. Im Zimmer steht hinter einem Sichtschutz sein Bett, am Fußende ein großes Fernsehgerät und ein Telefon der ehemaligen Luxusklasse mit Lautsprecheranlage, aus den Zeiten, wo der Bürger noch rund um die Uhr zum Preis einer Zählereinheit in der Stadt herumtelefonieren konnte. An der Wand entlang zieht sich ein hoher heller Wandschrank, in dem alles zu stecken scheint. Es liegt kaum etwas herum von all dem Krimskrams, der sich wie Ungeziefer immer wieder ausbreitet. Lediglich auf einer Kommode stapeln sich eindrucksvolle Mengen gehamsterter Medikamente: Salben, Tropfen, Tabletten, und alles noch innerhalb der Verwendungszeit, sagt der Antiquar, und daß es zum Verschenken gedacht ist, ans Arztmobil vor der Südsternkirche beispielsweise oder an den Kirchenmaler für die kranken Beine.
Dann setzt er sich zu uns und lenkt auf seine Sammelleidenschaft für Bücher über: „Es gab da ein Erlebnis in meiner Knabenzeit, unsere Schule wurde nämlich im Kriege abgeordnet, um die Bücher aus der Staatsbibliothek zu retten vor den Bombenangriffen – na ja, Angriffe kann man vielleicht nicht sagen, angegriffen haben ja wir oder die Nazis –, jedenfalls ich stand in einer Kette, die erstreckte sich von den Lastwagen die verschiedenen Treppen hinauf und hinunter, und reichte kleine Bücherstapel weiter, von Hand zu Hand. Bücher aller Größe, jeden Alters, sogar Folianten. Es war natürlich keine Gelegenheit, irgendwas anzusehen, alles mußte schnell gehen, aber das eine oder andere klappte mal ein bißchen auf, und dann der Geruch: Manche waren ganz leicht, obwohl sie schwer aussahen. Ich glaube, dieses Erlebnis hat mich geprägt fürs Leben, andere haben später vielleicht nie mehr daran gedacht. Und nun befasse ich mich schon seit über vierzig Jahren mit Büchern, ihr wißt ja, mit Vorliebe studiere ich Sexualwissenschaftliches oder Erotica und dann natürlich die Kultur- und Sittengeschichte. Manchmal rufe ich an oder schreibe an Verlage, erkläre, daß ich minderbemittelt bin und frage, ob sie nicht von dem oder jenem Buch ein Mängelexemplar für mich hätten, aber daß ich mal eins kriegte, das war ganz selten. Andere rauchen und trinken, die verbrauchen zweihundert Mark im Monat nur dafür. Ich geb's für Bücher aus. Ich will euch mal was zeigen.“ Er geht zum Wandschrank und holt ein paar sorgfältig in Zeitungspapier eingeschlagene Päckchen hervor, wickelt sie aus und reicht uns vorsichtig ein Buch nach dem anderen. Mit fast amtlicher Stimme kommentiert er: „Wedekind, Tagebücher, zwei Bände; Katharina II., die Große, ihre Memoiren, herausgegeben von Erich Böhme, Leipzig 1913; und dann von Stern, die „Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Rußland“, zwei Bände, 1907 und 1908, und hier noch: „Das Leben der galanten Damen“... Wir wehren ab, blättern unter seinem besorgten Blick flüchtig durch, schon wird alles wieder eingepackt und verschwindet im Schrank, in dem sich noch zahllose andere Päckchen zu befinden scheinen. Er präsentiert seine Bücher nicht als Bibliothek im Regal, sondern hortet sie, wie Schinken und Würste, versteckt in einem geheimen Speiseschrank, für schlechtere Zeiten vielleicht? „Nein, nein“, sagt er, „ich merke mir alles. Frau Prater hat sich ja leider dafür weniger interessiert. Von den Büchern, die sie hatte, will ich kein einziges haben. Ich bin ja an sich der Erbe... Ach ja, das wollte ich euch noch vorlesen, das kam mit der Post hierher, ich weiß gar nicht, woher die Hausverwaltung meine Adrese hat.“ Er holt ein Schreiben vom Tisch und entfaltet es: „...da Frau Prater verstorben ist, nehme ich an, daß Sie sich um die Auflösung der Wohnung bemühen werden. Seien Sie so freundlich und melden Sie sich bei mir im Büro, damit wir die Einzelheiten besprechen können. Nach meiner Erinnerung dürften sich die Räume nach wie vor in einem stark renovierungsbedürftigen Zustand befinden. Als Verwalter des Grundstückes melde ich hiermit Ansprüche an und bitte um Mitteilung, wer als Erbe in Frage kommt.“ Na, ich bin der Haupterbe, die Pflegetöchter kriegen nur ihren Teil, an sich, aber ich rücke das Testament nicht raus, sollen sie ruhig alles haben. Ich habe gesagt, ich kann kein Testament finden. 20.000 Mark soll die Wohnungsrenovierung kosten, als Erbe übernehme ich ja auch die Pflichten, und diese Summe übersteigt bei weitem das, was da ist. Ich habe von meinem Geld schon dazugegeben, für die Beerdigung. 2.100 Mark Sterbegeld gab's von der Kasse, Sparbuch hatte sie ja keines, 3.500 Mark kam die Beerdigung insgesamt. Dann mußte ich auch noch die Urnenstelle meiner vorherigen Lebensgefährtin verlängern um weitere zehn Jahre, das kostete auch 700 Mark, die konnte ich ja nicht einfach auslaufen lassen, das hatte ich versprochen. Aber so was wirklich einzuhalten, das ruiniert.“ Er kichert und sagt: „Galgenhumor. Bei mir war das schon immer so, ich kam nie auf einen grünen Zweig, war schon von klein auf anders als die anderen. Vielleicht lag es an meinen Eltern. Ich bin 1930 geboren, sieben Kinder waren wir, ich der Jüngste. An sich hätten wir dreizehn werden sollen, aber die wurden alle abgetrieben. Meine Mutter und mein Vater hatten beide vorher auf dem Land gearbeitet, bei Bauern. Schon 26 Jahre waren sie alt und bekamen keine Kinder, dann zogen sie nach Berlin, und da kam plötzlich eins nach dem anderen. Geld hatten wir nicht viel, schon gar nicht für Bücher, mein Vater war lange arbeitslos, und meine Mutter ging putzen. Ihr wißt ja, eine Weile auch bei Eduard Fuchs, dem „Sittenfuchs“, Hammerstraße 40, in Zehlendorf, gleich hinter dem Dahlemer Weg, und mich hat sie mitgenommen, aber ich war ja noch zu klein damals.
Als ich drei war, ist er in die Emigration gegangen. Allerdings, die erste Zeit hat meine Mutter noch nach dem Rechten gesehen, dann wurde alles aufgelöst. Vielleicht habe ich ja da mehr gesehen, als ich heute weiß? Nach der Schule habe ich ja alles mögliche gemacht, aber ich war für nichts zu gebrauchen, das fiel nicht weiter auf, es war ja Nachkriegszeit und jeder hat so herumimprovisiert. Ich wollte sogar auch mal Elektriker werden, bekam aber einen Schlag und habe mich dann nie mehr getraut, solche Sachen anzufassen. Mal da, mal dort hab' ich gearbeitet, man war jung und hat sein Leben genossen, Arbeit gab's in Hülle und Fülle, und alles war preiswert. Da konnte man noch mit ganz wenig Geld auskommen. Viel in Bibliotheken bin ich gegangen, vor dem Mauerbau war ich regelmäßig in Ostberlin, im Haus der Kultur der Sowjetunion, neben dem Maxim Gorki Theater. Ich habe mich ja damals sehr für den Sputnik und solche Dinge interessiert. Sie hatten da sehr schöne Bücher in ihrer Bibliothek und gute Vorträge. Zehn Tage vor dem Mauerbau, also es muß so am 3. August 1961 gewesen sein, war ich Bücher zurückgeben und wollte mir neue ausleihen, da sagte man mir, nix da, es gibt keinen Bücherverleih momentan. Da wußten die schon, daß in Kürze die Mauer kommen wird und sie ihre Bücher vielleicht nie wiedersehen. Ich war auch viel in Antiquariaten, bin herumgestreift, habe gelesen, leisten konnte ich mir ja nicht viel. Und so hab' ich auch meinen Freund kennengelernt, der das Antiquariat hatte, in der Mansteinstraße, da, wo das alte Weinhaus Leydicke ist. Wir haben gut zusammengepaßt, ich bin ein Einzelgänger und Außenseiter, er war ein Einzelgänger und Außenseiter, wenn auch auf eine andere Art. Eines Tages bot er mir an, bei ihm einzusteigen. Er war sehr belesen und gebildet, hat mir eine Menge beigebracht, ich hab' das ganze Wissen angenommen im Laufe der Jahre, so daß ich bald gut ohne seine Anwesenheit zurecht kam. Er war ja viel unterwegs. Ein komischer Kauz war der Mann, er hatte was gegen Strom, wie ich, aber mehr gegen die Preise, die waren ihm zu teuer. Eines Tages hat er an die Bewag geschrieben, er läßt sich nicht zur Stromabnahme nötigen und um Unsummen bringen, Jahr für Jahr. Er zahlte nichts mehr, da haben sie ihm den Strom abgestellt. Von da an hat er alles mit Petroleumlampen beleuchtet, das war natürlich ein bißchen gefährlich, bei all dem Papier und auch nicht gerade günstig zum Lesen, aber er sagte: „Die besten Werke der Weltliteratur sind bei solchem Licht geschrieben worden, also wird es für unsere Zwecke voll und ganz reichen.“ Im Sommer fuhr er immer nach Spanien und blieb lange Zeit weg, im Winter hat er in London eingekauft, für das Antiquariat. Wir hatten viele gute Kunden, betuchte Kunden, den Maler Baselitz beispielsweise und Boleslaw Barlog vom Schiller Theater – er lebt glaube ich noch, irgendwo bei euch in der Nähe wohnt er, der war auch Autodidakt, wie ich, nur ein erfolgreicher“, der Antiquar lacht, „na, jedenfalls liefen die Geschäfte nicht so ganz schlecht, er bezahlte mich regelmäßig, es schien alles in Ordnung zu sein, soweit. Als er dann eines Tages starb, stellte sich heraus, er hatte nie einen Pfennig Sozialabgaben bezahlt für mich, er hat lediglich die laufenden Kosten bestritten und sich ansonsten um gar nichts gekümmert. Deshalb habe ich heute so eine winzige Rente. Die Frau erbte alles, ich nichts. Er liegt auf dem St.- Matthäus-Friedhof, wo auch die Brüder Grimm liegen. Später hab' ich mich arbeitslos gemeldet, für mich gab es ja nichts mehr, in meinem Alter, und dann kam auch bald schon die Rente. So schnell ist das alles gegangen, wenn ich heute so zurückschaue. Ich versteh das nicht! Erst mal muß ich mich mal wieder einleben hier. Gestern abend habe ich mir eine Schablone erfunden, aus Pappe, mit der ich mir die Nackenhaare sauber ausrasieren kann. Das muß ich ja jetzt selber machen, weil sie nun tot ist, die Frau Prater. Es ist besser, ich stelle mich darauf ein, daß ich vielleicht allein bleiben muß, denn viel zu bieten habe ich einer Frau ja nicht.“
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