: Intrigen unter den „Machtministern“
Die russichen Grenztruppen sind die einzige der drei Armeen des Landes, die reformiert wurde. Sogar der Sold wird pünktlich gezahlt. Dennoch warf deren Chef das Handtuch – ausgerechnet wegen der Militärreform ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
Wer im Herbst letzten Jahres vor dem russisch-georgischen Grenzübergang Werchnij Lars ein Streichholz fallen ließ, hätte die ganze georgische Heerstraße in Flammen setzen können. Über 2.300 Last- und Tankwagen mit über dreißigtausend Tonnen reinen Alkohol Fracht hat der russische Zoll hier seit Juli letzten Jahres an der Weiterfahrt nach Nord- ossetien gehindert. Der Tradition gemäß wird dort die Schmuggelware aus den USA und Kanada nach ihrem Weg über den georgischen Hafen Poti zu Wodka weiterverarbeitet. Ganz offiziell kassiert der georgische Staat für jeden Liter Transitgebühr. Links und rechts der Trasse fließen die Schmiergelder, bis in die Taschen hoher Moskauer Beamter.
Auf dem Grenzpaß kam es täglich zu Tumulten. Die Laster können an der Darjalski-Schlucht kaum wenden. Der Konflikt erreichte seinen Kulminationspunkt, als die russischen Zöllner deshalb einen neuen Kontrollposten eröffneten, dort, wo sich die Straße zu einer Plattform erweitert. Obwohl die Stelle nach den Landkarten noch in Rußland liegt, erhob die Regierung in Tbilissi lautstarken Protest wegen Verletzung der georgischen Hoheitsgebiete.
General Andrej Nikolajew (48), Direktor des russischen Grenzdienstes, konterte: „Wo wir stehen, da werden wir bleiben, wenn wir heute Georgien nachgeben, dann morgen allen anderen.“ Der georgische Präsident Eduard Schewardnadse warf ihm daraufhin Einmischung in die Außenpolitik vor. Nikolajews Selbstsicherheit erwies sich als verfrüht. Im Dezember verfügte Präsident Boris Jelzin, den Grenzposten um über einen Kilometer zurückzusetzen. Wenige Tage später legte Nikolajew sein Amt nieder – angeblich freiwillig. Jelzin wies die Regierung im Januar an, die Wiedereingliederung des Grenzdienstes in den Föderalen Gegenspionagedienst (FSB, früher KGB) vorzubereiten.
Die beiden Dienste waren noch eins, als Nikolajew im Sommer 1993 zum russischen Oberzöllner ernannt wurde. In der Armee sah man den damals 44jährigen Afghanistan-Veteranen gern gehen. Selbst Sohn eines hochrangigen Generals, galt er dort als Nomenklatura-Söhnchen. Die Grenztruppen – neben der regulären Armee und den Truppen des Innenministeriums eines der drei russischen Heere – hatten gerade in Tadschikistan eine vernichtende Niederlage erlitten. Nikolajews neuer Posten galt damals als Schleudersitz. Doch schon ein halbes Jahr später wurde der Grenzdienst zu einer selbständigen Behörde und der General zum jüngsten Machtminister – so nennt man in Rußland die obersten Polizei- und Truppen- chefs. Fortan löste der Grenzdienstdirektor seine Probleme mit dem Präsidenten unter vier Augen.
Daß Jelzin jetzt das Rücktrittsgesuch gerade dieses Generals angenommen hat, kommentiert die Öffentlichkeit mit Fassungslosigkeit. Als einziger Machtminister hat er es vermocht, seinen Dienst grundlegend zu modernisieren. Anders als Polizisten und Armee- soldaten erhielten die Grenzler pünktlich ihren Sold. Ihr oberster Chef kümmerte sich darum, daß ihr Haus beheizt und ihr Brot gebacken wurde. Er müsse seinen Leuten das selbständige Denken ermöglichen, argumentierte Nikolajew: „Der Kommandeur eines Kontrollpunktes muß manchmal auch Direktor des Grenzdienstes sein und manchmal Außenminister.“ Nun wurde Nikolajew auch ein Opfer von Intrigen um die Militärreform.
In seinem Bestreben, die Staatsgrenzen zu schützen, ignorierte Nikolajew die Grenzen im Inneren des russischen Machtgefüges. Für seine Behörde forderte er ein 1998er Budget von einer Milliarde dreihunderttausend Dollar. In den Augen von Verteidigungsminister Sergejew, Geheimdienst-Direktor Kowaljow und und Innenminister Kulikow brachte dies das Faß zum Überlaufen. Zu lange hatte der General ihren unverbrüchlichen Werten getrotzt.
Der in Rußland immer noch verbreiteten Verherrlichung alles Militärischen verspottete Nikolajew 1996, als er den Titel „Oberkommandeur der Grenztruppen“ und die Uniform ablegte. „Statt des eisernen Vorhangs eine zivile Grenze!“ lautete seine Losung. Dem Geheimdienst, der die eigene Vergangenheit glorifiziert, hielt er vor, er habe die Zöllner zu politischen Schnüfflern degradiert.
Der Sturz des jüngeren Konkurrenten führte zu seltener Einigkeit unter seinen Kollegen, die den Wert der eigenen Truppen nach der Zahl der Kämpfer und der Schwermetall-tonnen bemessen. Für Innenminister Kulikow erfüllte sich ein alter Traum: Am 26. Januar verfügte die Regierung, daß alle Behörden, die sich mit Verbrechensbekämpfung befassen – Innenministerium, Zoll, Geheimdienst, Steuerfahndung, und der Sicherheitsdienst des Präsidenten – von einer Kommission koordiniert werden sollen. Deren Vorsitz hält zwar Premier Tschernomyrdin, faktisch dürfte die Geschäfte aber sein Stellvertreter führen: Anatoli Kulikow.
Doch schon hat der Erfolg den Innenminister schwindelig gemacht. Am siebten Februar bezeichnete er auf einer Versammlung der Akademie der Kriegswissenschaften das Armee-Reformkonzept Jelzins als undurchführbar. Kulikow stellt sich damit in eine Reihe mit einstigen Armee- Generälen von Alexander Lebed bis Ljew Rochlin. Zum erstenmal zeichnete sich damit in Rußland eine oppositionelle Gruppe hochrangiger Militärs ab.
Jelzin hat bereits erkennen lassen, daß er General Nikolajew, der jetzt bei Duma-Nachwahlen kandidiert, als Verbündeten nicht verlieren möchte. Er zeichnete ihn nachträglich mit einem Orden für seine Verdienste im Grenzdienst aus und kam alten Forderungen Nikolajews nach: ein Teil der Vollmachten des staatlichen Fischereikomitees wurde auf den Grenzdienst übertragen. Der soll jetzt eine moderne Flotte bekommen. Was die Neuverschmelzung von Grenzdienst und Gegenspionage betrifft, so spürt Nikolajew schon wieder Oberwasser: „Ich glaube nicht, daß es dazu kommt.“
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