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Nachtwache: Sitting on the dock of the Gay Von Wiglaf Droste

Zu Zeiten, in denen es sich empfiehlt, seine Tage zu verschlafen, hält man naturgemäß Nachtwache. Man kann dann durch erfreulich menschenleere Straßen spazieren, in allerlei Lokalen die Qualität des Nighthawks-at-the-Diner-Nachwuchses in Augenschein nehmen oder, die Arme hinter dem Rücken verschränkt wie ein türkischer Familienvater beim Sonntagnachmittagsfamilienspaziergang, ganz allgemein nach dem Rechten sehen.

Bzw. nicht minder angenehm, weil ungestört von den Vertretern des Bösen am hellichten Tage, den sog. Handwerkern und den von ihnen verursachten Geräuschen, ein stilles Nachtwerk verrichten und dem nachgehen, was Harry Rowohlt Borderline-Journalismus nennt: eine bizarre Schattenwelt beschreiben – in diesem Fall jenes seltsame Treiben, das sich frühmorgens zwischen drei und fünf Uhr in den Fernsehkästen des Landes abspielt.

Erstaunlicher, weil zuvor nicht einmal erahnter Dinge wird man gewahr als spätnächtlicher Fernsehinspizient – z. B. einer geriatrischen Serie namens Matlock, die unseren chronisch schlafarmen Greisen folgende nett verpackte, aber doch erkennbar brutale Botschaft ins Haus schickt: Hey, ihr seid zwar entsetzlich alt und überflüssig, und wäret ihr nur etwas weniger rücksichtslos und egoistisch, ihr hinget euch für immer in den Schrank, statt uns auf der Tasche zu liegen, aber wenn ihr uns schon die Luft zum Atmen nehmen müßt durch euer bloßes Dasein, dann seid doch bitte, wie der silbrige Matlock, wenigstens noch zu irgend etwas nütze.

Am verwirrendsten aber sind Beschaffenheit und Häufigkeit der frühmorgendlichen Werbespots für telefonischen Sex. Ob sich das lohnt? Ist denn um diese Zeit überhaupt noch nennenswert wache Kundschaft vorhanden? Und greift nicht der klassische potentielle User, der chronisch vereinsamte Handelsvertreter im Hotelzimmer, direkt zu filmischen Mitteln, die anderntags auf seiner Rechnung dann verdruckst-diskret als „Hotelmedien“ aufgeführt werden?

Warum also räkeln sich morgens um halb fünf nackte Damen im Fernseher herum und reiben ihre Implantate? Und stöhnen dabei „Nämm mäch! Äch wäll däch spören!“ oder „Onändläche Lost!“ und singen Telefonnummern, die manchmal sogar „Geheimnummern“ heißen, weil sie so „geheim“ und so exklusiv sind wie das Telefonbuch, und die sich wie fahle Würmer ins Ohr hineindrehen: „Null Hundertneunzig dreidreizwei, dreidreizwei! Ruf an!“

Und wieso wird handkehrum eine „San Francisco Gay“-Reklame geächzt und gelispelt: „Gays! Hier in deiner Umgebung! Direkt auf der Line! Hier geht die Post ab!“? Erinnert das nicht – trotz des extrem tuntigen Timbres – an die dunkelsten Stunden deutscher Heterosexualität? An 1977, als der schmierige Jürgen Drews im Titelsong seines Albums Barfuß durch den Sommer diese Zeilen sang: „Ich schmeiß die Steaks auf den Rost / und ab geht die Post / mit uns beiden“! Und was soll das geradezu lesbenverachtende, weil im beleidigend inferioren Diminuitiv dahergepiepste, angefügte Sätzchen „Und für uns Lesben ein extra Zimmerchen ganz privat“? Soll das sexuelle Gegenkultur sein?

Fragte ich mich, schlief endlich ein und träumte von sechs Richtigen im Falschen.

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