: Wohnen – ja! Aber wie?
Der Begriff des „Wohnens“ beinhaltet heute vor allem Wohlbehagen und Zufriedenheit, nämlich die Harmonie des Individuums mit seinem Stil, dem persönlichen Umfeld und seinen Vorlieben. Das Wohnen im Wandel zwischen Gestern und Heute ■ Von Wolfgang Höhl
Schlafzimmer, Wohnzimmer, Badezimmer mit Wanne, Klo oder gar Waschbecken – für Otto Normalverbraucher bis ins 18. Jahrhundert hinein geradezu undenkbarer Luxus. Abgesehen von der Küche, war die Nutzung eines Wohngebäudes in Europa kaum festgelegt. Wasser wurde aus Brunnen gewonnen, und auch die Beheizung und die Beleuchtung erforderten ein hohes Maß an Arbeitsaufwand. Noch 1918 waren 40 Prozent aller Berliner Wohnungen Einzimmerwohnungen, von denen jede fünfte nicht einmal eine eigene Küche besaß.
Die Wohnungsnot der Jahrhundertwende, die schlechten hygienischen Bedingungen und zu hohe Mieten erzwangen neue Lösungen, ebenso wie der technische Fortschritt und die Entwicklung moderner Haustechnik. Doch der Komfort kam erst später: Die gesellschaftliche Reorganisation nach dem Ersten Weltkrieg brachte der Wohnbevölkerung eine bessere Versorgung mit Licht, Luft und Sonne, was eine grundlegende Umgestaltung der Städte und der Wohnungsgrundrisse erforderlich machte. Die Reihenhaussiedlung Falkenberg, die Gartenstadt Staaken und die großen Siedlungen der Zwischenkriegszeit entstanden: Siemensstadt, Weiße Stadt, Onkel-Toms-Hütte und die Hufeisensiedlung Britz. Sparsame, nach der Sonne orientierte Wohnungszuschnitte wurden nach Methoden des kosten- und flächensparenden Bauens auf dem letzten Stand der Technologie entwickelt.
Der Wiederaufbau der Nachkriegszeit stand vorwiegend im Zeichen einer raschen Bedarfsdeckung an Wohnfläche. Der Wohnungszuschnitt unterschied sich kaum von den Vorbildern aus den zwanziger Jahren. Ein schier unerschütterlicher Glaube an die moderne Technologie, der Wunsch nach einem Neubeginn prägten den Wohn- und Städtebau der 50er und 60er Jahre. Das hohe Ziel: eine wenig verdichtete, in Zeilenblocks organisierte, „durchgrünte“ und „autogerechte Stadt“.
Getragen von niedrigen Energiekosten wird das Wohnen in den technologischen Utopien der 60er und 70er Jahre automatisiert, mobil, flexibel und variabel. Aufblasbare Möblierung, wachsende Häuser, die Modulbauweise, Trabantenstädte und städtische Megastrukturen sind heute noch Relikte dieser Ära. Der Wohnungsgrundriß wird multifunktional. Vorfabrizierte Kunststoff-Naßzellen oder eine freistehende Küchenzeile werden an Versorgungsschächte angedockt. Drive-in-Housing, transportable Capsule-Homes und Wohnzellen mit flexiblen Wänden, Böden und Decken werden als Wohnformen propagiert. Der Hoverchair, ein Sitz- und Schlafmöbel mit elektronischer Steuerung wird gleichzeitig zum innerstädtischen Fortbewegungsmittel.
Die Ölkrise am Beginn der 70er Jahre führt uns wirkungsvoll die begrenzte Verfügbarkeit von Ressourcen vor Augen und begründet ein fortan gestiegenes Umweltbewußtsein. Die Nutzung regenerativer Energieformen und wiederverwertbare Materialien sind von nun an nicht mehr wegzudenken.
Die 80er und 90er Jahre erleben die Zersiedelung des Stadtumraumes durch das Einfamilienhaus und eine boomende Fertighausindustrie. Das „global village“ wird zum Schlüsselbegriff neuer Arbeits- und Wohnformen im Zusammenhang mit den Möglichkeiten der Neuen Medien.
Noch im letzten Jahrhundert stellte man sich die Frage: „In welchem Style sollen wir bauen ?“ Leider sind diese Worte heute noch nicht gänzlich verklungen. Zu welchem Lifestyle entscheidet man sich, wo will man zugeordnet werden, welche Symbole sollen benutzt und zum wiederholten Male gequält werden. Kriterien, die für eine persönliche Wohnqualität oft sekundär, wenn nicht sogar widersprüchlich sind.
Als Folge davon entsteht ein mit einem starken bürgerlichen Image belasteter Wohnbegriff innerhalb einer „saftlosen Kategorie Wohnen“, mit oft propagierten „absoluten Wohnwerten“. Das Hochglanz-Wohnen liefert uns vorfabrizierte, gebrauchsfertige symbolische Welten zur Wohngestaltung. Zur persönlichen Entfaltung soll für jeden etwas dabeisein, man braucht sich nur für einen Stil zu entscheiden.
Beispielhaft kennt das „personalisierte Interieur“ viele Vorbilder: die schwarze Büste auf dem Sims der Imitation eines offenen Kamins, der Kristallüster als Staubfänger, vergoldete Armlehnen an weißen Bugholzstühlen, ein Ausblick ins 18. Jahrhundert, jenseits aller zeitgemäßen Anforderungen an eine moderne Wohnung. Der Selbstdarstellungswahn des einzelnen kennt keine Grenzen, alles scheint geplant: ob man sich im Landhausstil einrichtet oder den Minimalismus beschwört, sich dem Öko-Stil verpflichtet oder eine Schwäche für indigoblau, lachsfarbene, gepflegte Kerzenlicht-Interieurs vorgibt – es gilt als Ausdruck persönlicher Entfaltung. Gelackte Stilbeflissenheit statt Individualität.
Denn wer, außer dem Bewohner selbst, weiß schon, was gefällt? Jeder entwickelt schließlich eigene Gewohnheiten. Die Wohnung sollte der Ort sein, an dem wir uns mit unserem Umfeld, der Gemeinschaft und natürlich auch der Möblierung in Harmonie befinden. Und das zu erreichen, sollte doch der einzige sinnvolle Maßstab bei der Gestaltung unserer Wohnung sein. Seit dem Anfang unseres Jahrhunderts hat sich diesbezüglich wenig verändert. Adolf Loos schreibt in diesem Zusammenhang: „Eure wohnung könnt ihr euch nur selbst einrichten. Denn dadurch wird sie erst zu eurer wohnung. Macht das ein anderer, sei er maler oder tapezierer, so ist es keine wohnung. Es kommt höchstens heraus: eine reihe von hotelzimmern. Oder die karikatur einer wohnung.“
Was damals galt, ist auch heute noch wichtig: An erster Stelle sollte immer noch der Nutzer entscheiden, wie er wohnen möchte. Wer sich seinen Stil von anderen diktieren läßt, riskiert eine Blockade der persönlichen Entfaltung. Nicht sinnlose Stilfragen sollten das Wohnen bestimmen, sondern vielmehr persönliche Vorlieben, wirtschaftliche Möglichkeiten und ökologische Nachhaltigkeit.
Literatur: Reinhard Gieselmann: „Wohnbau“. Braunschweig 1979; Paul Tesar: „Wohnung, Gewohnheit, Architektur“. Raleigh 1990; Aldo van Eyck in einem Vortrag auf dem CIAM-Kongress IX in Aix-en-Provence 1953; Manfred Wolff-Plottegg: „Architektur Algorithmen“. Wien 1996; Adolf Loos: „Das heim“. In: „Trotzdem“. Wien 1988; „A guide to Archigram 1961–1974“. Academy Editions 1994
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen