piwik no script img

„Du stehst immer kurz vor dem Abfliegen“

■ Bei den Paralympics sind die Alpinen wegen der Verletzungshäufung in die Diskussion geraten, aber die Aktiven halten ihren Sport nicht für gefährlicher als den der Nichtbehinderten

Nagano (taz) – Der Wintersportort Shiga Kogen steht derzeit ganz im paralympischen Zeichen: Statt der üblichen Wintersportbretter lehnen derzeit einzelne Beine im Schuh in den Skiständern am Fuße des Berges Higashidate – mal mitsamt eines Oberschenkelersatzes aus Plastik, mal nur die unteren Extremitäten. Alexander Spitz aus Menzenschwand wurde im Alter von elf Jahren der Oberschenkel amputiert, als Ärzte eine hartnäckige Muskelverletzung als Knochenkrebs enttarnten. Seither ist Spitz, 29, auf einem Bein mit allein drei Paralympics-Siegen zum erfolgreichsten behinderten Alpin-Star weltweit geworden.

Am Sonntag abend nun hockte Spitz traurig in Naganos Metropolitan Hotel. Vormittags bei der Abfahrt war er nur drei Tore weit gekommen, als ihm die Korrektur eines Schlags auf den Ski mißlang, er in Rückenlage kam und sein Ski sich in den Boden einbohrte. Am Fersenbein splitterte ein Stück ab, und sein gesunder linker Unterschenkel mußte in Gips gelegt werden. Im Rollstuhl sitzend, grämte sich Spitz, „daß ausgerechnet ich nun eine Diskussion auslöse, in der wieder einmal der gesamte Behinderten-Spitzensport in Frage gestellt wird“.

Der Banker Spitz ist erfahren genug, um die Realitäten richtig einschätzen zu können: Weil sich im alpinen Team die Verletzungen in Japan häuften, ist ein öffentlicher Disput darüber ausgebrochen, ob behinderte Menschen sich wirklich auf der Jagd nach Rekorden waghalsig steile Hänge hinunterstürzen sollten. Trotz der Misere mag niemand in der deutschen Delegation grundsätzliche Schlußfolgerungen zulassen. „Manchmal“, sagt der behandelnde Mannschaftsarzt Hartmut Stinus, „läuft Wasser den Berg hinauf.“ Weil der Doktor inzwischen sämtliche Krankenhäuser und Kernspintomographen Naganos kennenlernen mußte, ist Mannschaftsleiter Franz Becherer bereits im örtlichen Zenkoji-Tempel vorstellig geworden, um den passenden Glücksbringer aufzutreiben. Der Super G gestern verlief prompt verletzungsfrei.

Dabei sehen sich die Sportler nur dem gängigen Risiko ihrer Sportart ausgesetzt, keinesfalls einem behindertenspezifischen. „Unsere Abfahrt“, beobachtete der rehabilitierende Schönfelder, „war doch nur ein guter Super G der Nichtbehinderten.“ Gleichwohl realisiert sich für die Medaillenkandidaten mit einem Sturz ein allgegenwärtiges Risiko im alpinen Skisport. „Wenn du vorne mitfahren willst“, gesteht der zweifache Silber-Sieger Markus Pfefferle, „stehst du immer kurz vorm Abfliegen – da reicht ein kleiner Fehler.“ Der doppelte Bronze-Gewinner Frank Pfortmüller konzediert gar, gelegentlich „mit der Brechstange“ hinabzurasen. Aber: „Wenn ich nicht bei Paralympics fahre, dann eben privat irgendwo.“

Der Deutsche Behinderten Sportverband (DBS) sieht seine Mitglieder ausreichend geschützt, zumal man auch nicht fahrlässig jegliche neu Disziplin einführe, sondern stets eine wissenschaftliche Unbedenklichkeitsprüfung vorangehen lasse: Den fortschreitenden Erfolg belegt die Industrie. „Das Selbstbewußtsein der Behinderten ist enorm gestiegen“, stellt Gunther Schumann, Marketingchef des weltgrößten Prothesenherstellers, Otto Bock aus Duderstadt, fest, „früher mußten Prothesen fleischfarbig sein, heute wollen alle sie so knallebunt wie es geht, um zu zeigen, was sie haben.“

Bei aller Extrovertiertheit steht der Wunsch nach Gleichbehandlung der Behinderten allem voran. Der Paralympics-Medaillensammler Schönfelder kickt daher mit derselben Begeisterung wie für den Wintersport in der Weltspitze in den Niederungen der bayerischen Kreisliga A, wegen des „Vergleichs mit Nichtbehinderten“. Der frustrierte Ski-Invalide Spitz läßt sich im Rollstuhl nicht von seinen Mannschaftskollegen schieben. „Dann“, findet er demütig, „sehe ich ja noch behinderter aus.“ Jörg Winterfeldt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen