: Algerische Gewerkschaften im „Jahr der Wut“
■ Streik gegen den brutalen Privatisierungskurs der algerischen Regierung. Arbeitslosigkeit und Preise steigen. Trotz Wirtschaftswachstum verelendet die Bevölkerung zunehmend
Madrid (taz) – Über 100.000 Arbeiter der algerischen Metall- und Elektroindustrie legten gestern ihre Arbeit nieder, um gegen die Umstrukturierung der staatlichen Industrie und ihre Folgen zu protestieren. „Der Streik war nur eine erste Warnung an die Regierung“, sagt der Chef der Gewerkschaft UGTA, Sidi Said. Die Belegschaften seien nicht mehr länger bereit, Opfer zu bringen.
Die wirtschaftliche Stabilisierung Algeriens, die Regierungschef Ahmed Ouyahia unermüdlich preist, wird allzu offensichtlich auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen. Während in nur fünf Jahren die Devisenvorräte von null auf acht Milliarden US-Dollar anstiegen, leiden die Algerier unter Arbeitslosigkeit und Währungsverfall. „Wir brauchen endlich Investitionen zur Schaffung von Arbeitsplätzen“, fordert Said.
Die Regierung überhört ihn und setzt auf eine Radikalkur: 500 staats- und gemeindeeigene Betriebe wurden bisher ganz einfach als unrentabel geschlossen. 50.000 Arbeitsplätze gingen dabei verloren. Bis zum Jahresende soll weitere 80.000 Arbeiter das gleiche Schicksal ereilen. Nur 250 der insgesamt 1.350 öffentlichen Unternehmen wird von Regierungsseite eine Überlebenschance eingeräumt. Sie sollen in den nächsten Monaten – wie von der Weltbank verordnet – privatisiert werden.
Auch das geht nicht ohne Arbeitsplatzverluste über die Bühne. Alleine die Holding Public Mécanique, die die metallverarbeitende Industrie vereinigt, will bis zum Jahr 2.000 ihre Belegschaft in Namen der Wettbewerbsfähigkeit von heute 45.000 auf 25.000 reduzieren. Das algerische Planungsministerium gesteht bereits heute eine Arbeitslosenquote von 28,2 Prozent – 2,2 Millionen Menschen – ein. 80 Prozent davon sind unter 30 Jahre alt.
Wer einen Arbeitsplatz sein eigen nennt, hat damit längst nicht ausgesorgt. Unzählige Staatsunternehmen zahlen seit Monaten keine Löhne mehr. Und der Währungsverfall – über 50 Prozent in den letzten fünf Jahren – läßt die eh schon schmalen Verdienste zur Unkenntlichkeit zusammenschrumpfen. Der gesetzlich festgelegte Mindestlohn beträgt 3000 Dinar, umgerechnet 95 Mark, ein qualifizierter Facharbeiter kommt mit viel Glück auf 250 Mark. Die Freigabe der einst subventionierten Lebensmittelpreise tut ein übriges. Das Kilo Lammfleisch gibt es nicht unter 490 Dinar – 15 Mark.
„1998 – Jahr der Wut“, hat die Tageszeitung Liberté zum Jahresauftakt Regierungschef Ahmed Ouyahia prophezeit. Das Blatt scheint recht zu behalten. Nicht nur in der Elektro- und Metallindustrie gärt es. Die Bauarbeiter gehen immer wieder auf die Straße, und selbst an den Unis denken die Professoren über eine Neuauflage des Streiks von vor einem Jahr nach.
Zwar zeigt das algerische Wirtschaftswachstum mit fünf Prozent nach oben. Doch ist das fast ausschließlich der Erdöl- und Erdgasindustrie zu verdanken. Allein im Laufe dieses Jahres soll die Erdöltagesproduktion von 900.000 Barrel auf 1,2 bis 1,3 Millionen angehoben werden, weit mehr, als die Opec erlaubt. Das füllt zwar die Staatskassen, doch Arbeitsplätze entstehen nur wenige.
1,2 Millionen Arbeitsplätze sollen mit den Einnahmen aus der Privatisierung geschaffen werden, versucht Regierungschef Ouyahia die Gewerkschaft zu beruhigen. Ein Versprechen, das mehr als unwahrscheinlich klingt, denn der Konflikt mit den Islamisten belastet den Staatshaushalt immer stärker. 17 Prozent des Budgets werden mittlerweile für die innere Sicherheit ausgegeben. Waren es 1994 noch jährlich 1,4 Milliarden Dollar für Armee und Polizei, sind es dieses Jahr bereits 2,4 Milliarden. 5,4 Milliarden Dollar hat seit Beginn des algerischen Konflikts 1992 alleine die Behebung der Schäden islamistischer Sabotageakte an Telekommunikationseinrichtungen, Straßen oder Schulen gekostet. Reiner Wandler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen