Floß und Waggon

Auf dem Floß der Medusa: Paul Steinbergs späte Chronik über den „Mensch des Vernichtungslagers“  ■ Von Michael Westphal

Darf ein Gemälde, zudem aus dem 19. Jahrhundert, den Holocaust darstellen? Es sind gerade die spätberufenen Chronisten, die den Gaskammern entronnen sind und sich erst in unseren Tagen zu Wort melden, die solchen Fragen nicht ausweichen. Sie setzen nicht selten neue Akzente, die den Zeugnissen aus den Vernichtungslagern – um nur Primo Levi zu nennen – überlegen sind.

Niemandes literarischer Rang wird dabei streitig gemacht, niemandes Leid und dessen Artikulationsversuch in Frage gestellt. Nehmen wir aber die literarischen Berichte aus Auschwitz als spezielle Gattung, so müssen wir ihr Entwicklungspotentiale zusprechen. So sind die frühen Zeugnisse unter ihren ganz spezifischen Produktionsbedingungen und vor allem ihrer zeitlichen Nähe zum Naziterror zu lesen, späte Texte entsprechend der entstandenen Distanz, aber auch der Beeinflussung durch jene frühen Schriften. Undenkbar wäre noch in Primo Levis Büchern der Verweis auf ein Jahrhundertgemälde, dem Nonplusultra der Schiffbruchszenen, um damit die Schrecken der Lager kenntlich zu machen.

Paul Steinberg bemüht 50 Jahre nachdem er als Überlebender von Auschwitz auf einen Todesmarsch geschickt wird genau dieses Bild: „Ich denke oft an die Opfer, die das Unnennbare überlebt haben, die der Rückkehr ins Leben so nahe waren und die in der Anonymität eines Zusammenbruchs ihren Tod auf diesem Floß der Medusa gefunden haben, das kein Géricault der Nachwelt übermittelt [...] Ich werde nach fünfzig Jahren wahrscheinlich der einzige sein, der an das grauenvolle Schicksal dieser Männer denkt, die gegen die Türen der Waggons schlagen und vergebens rufen, nur um am Ende an einem Tag im Frühling zu sterben.“

Diese Episode der „Chronik aus einer dunklen Welt“ schildert den desperaten Konvoi von über tausend Juden: Um den anrückenden Alliierten nicht in die Hände zu fallen, deportiert man sie abermals, werden sie schließlich, Auschwitz zwar entkommend, auf einem Abstellgleis von der Welt vergessen, wo sie jämmerlich krepieren. Durch eine rechtzeitige Vorwarnung entkommt Steinberg dieser finalen Deportation ins Nirgendwo und berichtet als Entronnener davon.

Das Siechtum seiner Leidensgenossen vorzustellen, mit denen er noch die Pritsche, die Latrine, den Appell, den Rauch und den Gestank der Krematorien von Auschwitz geteilt hat, bedient sich Steinberg der Wucht eines Jahrhundertbildes und transferiert dessen immanente Aussage auf das Wesen des Holocaust. Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil sich die unzähligen Überlebensberichte, abgesehen von Hinweisen auf Dantes Hölleninferno, meist gänzlich der Ikonographie oder Symbolkraft von Kunstwerken entziehen, auf der Hut, Auschwitz zu vergleichen, zu metaphorisieren. Steinbergs Gebrauch dieses Gemäldes wirkt durch die Selbstverständlichkeit des Erzählten: „Es gibt hoffnungslose Fälle, die es niemals lernen werden; ihre Hände bluten. Hier vernarben offene Wunden nicht. Die Ziegelsteine sausen auf ihre Füße. Die Schläge auf ihren Kopf. Das Ende dieser Leute ist vorgezeichnet wie Musik auf Notenpapier.“

Wer den Impetus aus Géricaults berühmtem Marinebild kennt, in dem auf einem leichenfarbenen Menschenfloß die letzten Überlebenden eines Schiffbruchs nach fast zweiwöchiger Irrfahrt verdurstend und verhungernd ausharren, der wird diesem so furios umgesetzten Menetekel menschlicher Qual die Ausstrahlungskraft einräumen, derer es bedarf, die von Steinberg erinnerte ultimative Deportation, zusammengepfercht in Viehwaggons, überhaupt vorstellbar zu machen. Das überdimensionale Bild, das im Pariser Salon 1819 zum Skandalon wurde, beeindruckte nicht nur durch die künstlerische Ausführung, sondern vor allem in der Expression von Leid, wie es in den einzelnen Gruppierungen zum Ausdruck kommt und als vehemente Anklage auf jeden Betrachter wirken mußte.

Das Louvre-Gemälde reicht weit über den historisch verbürgten Schiffbruch, der Géricault nicht mehr interessierte, hinaus und wird zur anthropogenen Universalie, die über die Epoche des Malers hinausweist. So liest und konnotiert es Paul Steinberg in seiner Chronik neu.

In der Raum-Chiffre des Floßes wird hier durch Paul Steinberg eine radikal neue metaphorische Übertragung angeboten, die angemessen auf die Deportationszüge als pars pro toto des gesamtem Holocaust reagiert, wie sie Jorge Semprún in seinem Roman „Die große Reise“ nachdrücklich schildert. Denn: Floß und Waggon – bei allen Einwänden, die sich sofort erheben – miteinander vergleichend, wird in den Gemeinsamkeiten das Wesen des Holocaust verständlicher und zugänglicher. Dem Abstrakten, Inkommensurablen, Unvorstellbaren, Unaussprechlichen wird damit ein Versuch entgegengehalten, begreifbar zu machen, was der Mensch dem Menschen antat. Auf dem Horrortrip zu den technokratischen Vernichtungsstätten waren alle zu erwartenden Umstände, die jedes Zeugnis eines Holocaust-Überlebenden versichern, wie in einem Mikrokosmos vorgezeichnet: der enge Raum, die Zwangsgemeinschaft, die extreme Körperlichkeit, das Nebeneinander von Noch-Lebenden und schon Toten und der chronische Hunger und Durst.

„Fast immer“ – schreibt Primo Levi in „Die Untergegangenen und die Geretteten“, das ja indirekt die Schiffbruch-Metapher im Titel führt – „steht am Anfang einer Erinnerungssequenz der Zug, der die Reise ins Unbekannte gekennzeichnet hat: nicht nur aus Gründen der Zeitabfolge, sondern auch wegen der sinnlosen Grausamkeit, mit der diese [...] Güterzüge für einen ungewöhnlichen Zweck eingesetzt wurden. Es gibt kein Tagebuch und keinen Bericht unter den vielen, die von uns verfaßt und erzählt wurden, in denen nicht der Zug auftauchte, der plombierte Waggon, der aus einem Beförderungsmittel für Handelswaren in ein fahrendes Gefängnis oder sogar in ein Tötungsinstrument umfunktioniert war.“

Paul Steinberg, der im selben Arbeitskommando wie Primo Levi als Chemiker Auschwitz überlebte, richtet am Ende seiner Chronik noch einmal den Blick auf sie und bemüht dabei abermals die bildnerische Kunst: „Diese zum Überborden vollgestopften Waggons mit irgendwie von fern an Menschen erinnernden Wesen weder tot noch lebendig, die ihre blicklosen Augen zu ihnen hinauf richteten [...] Die fahle Gesichtsfarbe der Toten, ihr Totengrinsen, ihre unlösbar ineinander verflochtenen, entkörperten Glieder, ich habe sie später auf dem Campo Santo von Pisa wiedergesehen, in dem wahnsinnigen, warnenden Fresko des Maestro del Triumfo de la Morte.“

Paul Steinberg: „Chronik aus einer dunklen Welt“. Aus d. Französischen v. M. Kahn. Hanser Verlag, München 1998, 168 Seiten, 34 DM