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Splatterjazz

■ Trilok Gurtu und The Glimpse interpretierten im vollbesetzten KITO den Begriff Ethnojazz neu

Wer gefragt wird, ob er den Kopf weggeblasen bekommen möchte, antwortet – vorausgesetzt, in Bad und WC, Beziehung und Beruf ist alles OK – in der Regel mit „Nein, danke schön. Lieber nicht.“Als aber der Percussionist Trilok Gurtu das Publikum im vollbesetzten KITO fragend mit der Aussicht konfrontierte, so laut zu spielen, daß ihnen darob die Runkel vom Hals gepustet werden könnte, schallte ihm gerade aus den ersten Reihen ein freudig erregtes „Yes, do it!“entgegen. Und da Gurtu nicht als Pausenfüller beim Kongreß der sadomasochistischen SelbstzerstümmlerInnen e.V. angetreten war, sondern ein normales Jazzkonzert zu Gehör bringen wollte, durfte der Rezensent sich – seitlich versetzt hinter einem dicken Pfeiler hockend und dem zweifelhaften Vergnügen fröhnend, mit einem Balken vor dem Kopf Musik zu hören – schon wundern über die bizarren Vorlieben des KITO-Publikums. Aber Guru Gurtu und seine dreiköpfige Band „Glimpse“verwehrte den Splatter-AnhängerInnen die Verwirklichung ihrer innersten Obsessionen. Die Lautstärke hielt sich in zivilen Dimensionen, so daß die autoaggressive Fraktion nicht einmal ein putzigen kleinen Gehörsturz abstauben konnte. Daß das zweistündige Konzert dennoch auf ungeteilte Zustimmung stieß, bestätigte mal wieder die alte Vermutung, daß gute Musik schlicht jeden seelischen Defekt zu beheben vermag.

Wer Trilok Gurtu wie jener Herr hinterm Balken schon seit längerem nicht mehr gesehen hatte, war von der im KITO hörbaren musikalischen Wandlung des in Hamburg lebenden gebürtigen Inders überrascht. Von dem mit allerlei Schlaggerät zarte Klänge produzierenden Duopartner des verstorbenen Pockettrompeters Don Cherry hat sich Gurtu mittlerweile deutlich entfernt. Und auch die Zeiten, wo er auf Tablas, Dhols und Gongs dafür sorgte, daß Oregon auch nach Colin Walcotts Unfalltod eine Pionierrolle in der Ethnojazzszene halten konnte, liegen lange zurück. Gurtus Quartett, das im KITO von der fußglöckchenwirbelnden Rachna Ramya Agrawal begleitet wurde, einer virtuosen Interpretin des ursprünglich in indischen Tempeln praktizierten Kathak-Tanzes, signalisierte bereits mit dem ersten Stück, daß es ihm nicht um den x-ten Aufguß der immer weniger spannenden Verschmelzung unterschiedlicher Musiktraditionen ging. Gurtu und der Gitarrist und Sänger Jaya Diva sind ebenso wie der Bassist Kai Eckhardt de Camargo und der Harmonium- und Sitarspieler Ravi Chary aufgrund ihrer biographischen und musikalischen Hintergründe jeder für sich Verkörperungen eines stilistischen und kulturellen Crossovers. Im KITO gingen von daher Jazz, Rock, indische, europäische und afrikanische Klangmuster in erfrischender Selbstverständlichkeit ineinander über. Dominiert von Gurtus ausgezeichnetem Skatgesang, der tata tatatiktata immer wieder die Brücke zu Agrawals Kathak-Tanz schlug, öffnete „Glimpse“ein aufregendes neues Kapitel im Zusammenspiel der musikalischen Traditionen. zott

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