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■ Der Bücherfrühling geht weiter – mit noch mehr lesenswerten Neuerscheinungen. Und die Wahrheit präsentiert's:Leipziger Lesezeichen (3)

Wer nicht genügend Initiative, Intellekt oder Sehschärfe zum Studium der Neuerscheinungen auf der Leipziger Buchmesse mitbringt, der kriegt die Superknaller des ausbrechenden Bücherfrühlings frei Haus geliefert. Nach den Themenkomplexen Sex und Kochen (vorgestern), Sex und Crime (gestern) heute: Sex und Afterthinking (Nachdenken).

Nachdenken und Nachspülen

Peter Handke: „Am Klofenster mittags. Verflüchtigtes, Hinuntergerauschtes und Klebengebliebenes 1987–1990“, 720 Seiten, keine einzige Abbildung, 68 Mark, Residenz Verlag Salzburg und Wien

Textauszug: „Gestern mittag beim Lesen unterm Klofenster riß es mich in einen olfaktorischen Rausch, der das ganze weitverzweigte Haus bis in die hintersten Kammern und Zimmer, Räume, Gemächer, Klausen und Kemenaten erschloß, und ich, lesend, war die diesem Raum entsprechende Farben- und Licht-Komplementärfigur. ,Danke‘, sprach es blattweise von der vor mir wie sich mir hingebenwollenden Rolle. Seltener Dank in schroffer Zeit. Mit sanft gespitztem, weichem Bleistift retourniere ich Blatt für Blatt: ,Bitte sehr, nichts zu danken! Mit frdl. Gruß Ihr P. Handke‘.

Was habe ich an Realität gewonnen im Laufe der Jahre? Was ich an Leere, zumal und zuvörderst innerer, gewonnen habe. Durch: Form; Farbe; Raum; Luft. Hier ich, gespannt und geduldig harrend im Ansitz, rechts neben mir der blaue Kamerad für Groß und Klein: die WC-Ente. Ja, das Höchste ist, wenn ich in und mit ihr all die Farben und Formen erlebe, freilich nicht losgelöst von, sondern an den Gegenständen, am Gegenüber. Freilich bis unter die Kante, wo der Unverspülbare haust: Kamerad Streptokokk!

Einatmen des Duftes gibt die Seelenumrisse an. Was hier ruht und der Beseitigung harrt, ist die Wiederholung der Speise; ist, mit anderen und weit deutlicheren Worten, die ich hier...“ (usw. usf.)

Erotik und Etagenkellner

Hera Lind: „Das Granatenweib“. Roman, 470 Seiten, 14,80 Mark, Fischer Taschenbuch-Verlag

Textprobe: „Warum, so überlegte die feurige Marlies Maredo in der stinkfeinen Hotel-Lobby, warum sollte ausgerechnet sie es nicht schaffen?

,Warum nicht ich, meine Herren?‘

Vor lauter Sprachlosigkeit fielen den sie umgebenden und gleichzeitig in fliederblauen Patchwork-Polstersesseln sitzenden Herren fast die dicken Zigarrenstumpen aus dem Mund.

,Wie? Ausgerechnet Sie, Frau Maredo? Sie als bekannte und erfolgreiche Komponistin, Mezzosopranistin und Bestsellerautorin mit Gesamtauflage von netto 7 Millionen, Sie wollen die UNO-Jahreshauptversammlung in New York in die Luft sprengen und die Weltherrschaft an sich reißen? In Pumps?‘ fragte total fassungslos der dicke Industrielle Dr. Dickerle und schnappte nach Luft.

,Das wollen Sie wirklich? Sie – als Frau?‘ wollte jetzt auch der schwitzende Filmproduzent Heinz Hanno Bratfisch wissen.

,Ich habe, ehrlich gesagt, Angst um Sie, Marlies!‘ fiel ihm der schlanke und hochgewachsene, aber leider völlig verarmte Etagenkellner Moritz Schwengel ins Wort. ,Lassen Sie mich Sie begleiten nach New York! Ich begleite Sie!‘

Natürlich schmolz der tapferen Marlies, die in diesem Moment ihre feurige pechschwarze Mähne mit weiblicher Wucht in den raffiniert ausrasierten zarten Frauennacken warf, das pochende Herz in ihrem schlanken Alabasterleib. ,Also gut, Herr Schwengel, ich nehme Sie mit.‘

,Geil, super!‘ kreischte Moritz jetzt mit seiner sympathisch-männlichen Falsettstimme und spritzte vor lauter Begeisterung dabei mit dem Mineralwassersiphon den beiden dicken Herren volle Kanne Sprudel in Gesicht, wobei oder worauf Marlies Maredo guttural stark lachen mußte.

Nicht umsonst hatte sie schließlich siebenundzwanzig Schwangerschaften hinter sich gebracht, dazwischen je ein Buch geschrieben, ein Haus gebaut, eine Filmhauptrolle mit vier Oscars gespielt, einen begrenzten Territorialkrieg geführt (1:0 gewonnen) und zwei neue Käfersorten entdeckt. Warum sollte Sie also nicht in New York, der Stadt am Hudson River, zusammen mit Herrn Schwengel...“ (etc. pp.) Oliver Schmitt

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