„Die Leute in Rumänien verehren die Kultur“

■ Der Übersetzer Gerhardt Csejka, der für die inhaltliche Vorbereitung des Schwerpunkts Rumänien verantwortlich ist, über den Stellenwert von Literatur in der rumänischen Gesellschaft

taz: Rumänien gehört nicht zu den Beitrittskandidaten der ersten Erweiterungsrunde von EU und Nato. Diese Prüfung hat das Land nicht bestanden. Ist es dafür kulturell interessant?

Gerhardt Csejka: Rumänien ist ein „melting pot“. Für die Entwicklung der rumänischen Kultur haben das Byzantinische, das Slawische und zweieinhalb Jahrhunderte Türkenherrschaft eine entscheidende Rolle gespielt. Daraus ist etwas entstanden, das man weder als mitteleuropäisch noch als orientalisch bezeichnen kann.

Wie läßt sich diese Kultur und Literatur beschreiben?

Rumänien hat eine blühende Literatur. Die Leute pflegen die Kultur nicht nur, sie verehren sie. Der Kulturbegriff wird dort viel enger gefaßt als hier, hat aber viel mehr Gewicht. Die Gesellschaft ist geprägt von der Kultur.

Wie kommt es dann, daß die rumänische Kultur und Literatur hier so gut wie unbekannt sind?

Die mittel- und osteuropäischen Kulturen sind vor der Wende vor allem über die Dissidenten rezipiert worden. Die Rumänen hatten da, anders als die Polen, Tschechen oder Ungarn, nichts zu bieten. Hinzu kam, daß Rumänien im öffentlichen Bewußtsein durch die Horrorgeschichten aus der Ceaușescu-Zeit und durch die schrecklichen Bilder der Revolution zu einem „barbarischen Land“ wurde.

Hat die europäische Randlage eine Bedeutung für das rumänische Selbstwertgefühl?

In Rumänien beklagt man bis heute, daß von hier keinerlei Initialzündung ausgegangen ist, wie in Frankreich vom Symbolismus oder in Deutschland vom Expressionismus. Aber ähnliche Probleme haben alle kleine Kulturen, die nur mit Mühe ihre sprachlichen Barrieren überwinden. Es gibt jedoch eine Rand-Mitte-Dynamik, die auch für Rumänien gilt. Man blickte in Rumänien lange Zeit auf Paris oder auf andere westliche Hauptstädte – oder zog hin. Tristan Tzara war 1916 in Zürich Mitbegründer des Dadaismus und später mit dem Surrealisten André Breton in Paris zusammen. Gellu Naum, der rumänische „Überdichter“, der auch nach Leipzig kommt, hat ebenfalls in Paris seine surrealistische Identität entdeckt.

Gilt das auch für die „80er Generation“, die in Leipzig ihren großen Auftritt bekommt?

Nein. Obwohl für sie die französische Literatur der 80er Jahre auch wichtig war, hat diese Generation den Sprung direkt nach Amerika gemacht. Das sind die heute 40- bis 45jährigen rumänischen Autoren, die Anfang der 80er Jahre nur gemeinsam, das heißt in Anthologien, debütieren konnten und einen völlig neuen Ton in die Literatur brachten. Dazu zählen Alexandru Musina, Ion Bogdan Lefter, Mircea Cartarescu, Elena Stefoi, Mircea Nedelciu, Stefan Agopian und andere. Später gesellten sich immer mehr hinzu, die alle dem gleichen Impetus folgten, den sie anfangs noch nicht definieren konnten und später Postmoderne nannten. Das ist allerdings ein großer Topf, in dem viel Unterschiedliches schwimmt. Es war der graue Alltag, der sie bedrückte, das Gefühl des Lebensentzugs. Die jungen rumänischen Autoren lehnten im Unterschied zur 60er Generation das Metaphorische ab und waren viel sachlicher.

Welchen Stellenwert hat die Literatur heute in der rumänischen Gesellschaft?

Für Rumänien wie für ganz Mittel- und Osteuropa gilt: Der Schriftsteller hat seine Rolle als Prophet verloren. Die Literatur hat vielfach Ersatz geliefert für Politik, für Wahrheit, für die soziologischen Tatsachen, die verschwiegen werden mußten. Der Stellenwert der Literatur sinkt, der Schriftsteller verliert seine Aura. Viele Autoren der älteren Generationen haben aufgehört zu schreiben. Die Generation der Ära Ceaușescu hat den Bruch, den die politische Wende darstellt, nicht kitten können.

Welches Verhältnis hatten diese älteren Generationen zum politischen Alltag?

Diese Autoren hatten eine komplizierte Art, sich im politischen Kontext zu verstehen: Je ästhetisch wertvoller die Literatur war, die man produzierte, desto eher meinte man sich von dem barbarischen, kulturlosen Staat abzugrenzen. Man glaubte ihn zu erschüttern, indem man Kultur machte. Die Frage des Widerstands ist dann spät, nach '89, aufgeworfen worden. Die Alternative Kultur oder Widerstand gab es für diese Leute nicht. Die einzige wirklich politische Aussage, die man von den meisten Intellektuellen in jener Zeit hören konnte, war: Dieser Staat ist kulturzerstörerisch.

Nun gibt es neben der rumänischen Literatur auch die der Minderheiten. Es gab eine deutsche, es gibt eine ungarische...

Es gab auch eine jiddische, und neuerdings gibt es auch eine „zigeunerische“. Rumänien ist ein Vielvölkerstaat. Es gab 20 Minderheiten, die alle ihre zwei, drei Autoren hervorgebracht haben. Diese Minderheiten haben sich jedoch nie in die rumänische Kultur einrühren lassen. Interview: Rudolf Herbert