Monströse Vergrößerung

■ Gespräch mit Thomas Heise über seinen Porträtfilm "Barluschke". Sein Held, Ex-Agent und Familientyrann, trägt schon professionell Masken

Am Anfang sieht man Familienbilder: Berthold Barluschke, früher DDR-Agent, später in den Westen übergelaufen, zieht aus. Seine Frau Joana, New Yorker Ärztin, und die beiden Kinder bleiben. Geld ist reichlich vorhanden, offenbar weil Barluschke in den Neunzigern für den BND mehr oder weniger illegal Waffen verschob. Thomas Heise, Mitarbeiter am Berliner Ensemble und einer der interessantesten ostdeutschen Dokumentarfilmer („Stau“), hat ein fast unmögliches dokumentarisches Porträt gedreht. Sein Held versteht sich professionell auf Maskeraden; so ist, was Barluschke wirklich getan hat, eher in Andeutungen zu erfahren. Aber „Barluschke“ ist nur in zweiter Linie ein journalistischer Film, eher ein Grimmsches Märchen: Von einem, der auszog, die Welt kennenzulernen, und sich dabei verlor. Und „Barluschke“ zeigt Innenansichten einer Familienhölle, die man genauer und abgründiger selten gesehen hat.

taz: „Barluschke“ erzählt die Geschichte eines Spions, der für die DDR in New York arbeitet, dort eine jüdische Amerikanerin heiratet, mit der er 1980 zurück in die DDR geht. In den Achtzigern läuft er in den Westen zum Bundesnachrichtendienst über. Nach dem Fall der Mauer verkauft er im Auftrag des BND NVA-Waffen in Krisengebiete. Jetzt wohnt er in Paris, ist schwul, tyrannisiert seine Familie und hat Aids. Wenn diese Geschichte ein Spielfilmplot wäre, würde sie keiner glauben.

Thomas Heise: Stimmt.

Wie beeinflußte das „Unglaubwürdige“, das Sensationelle dieser Biographie die Erzählweise?

Klar war, daß Aids keine große Rolle spielen sollte, weil es nicht hilft, um die Figur zu verstehen. Barluschke wäre nicht anders, wenn er gesund wäre: vielleicht aggressiver. Aids erklärt nichts.

Barluschke kann qua Beruf mit Identitäten spielen. Polyglott, großbürgerlich, dann wieder spießig und eng. Ein Chamäleon?

Er kann sich in verschiedensten Rollen inszenieren. Ein Charakter der Moderne, wenn man so will. In den Chat-Channels im Internet erfinden die Leute Persönlichkeitsprofile für sich und verhalten sich dementsprechend. Barluschke hat das nicht virtuell, sondern im Leben praktiziert.

Der Film versteckt die Fakten eher. Er erzählt sie wie nebenbei, so daß sich das Publikum seinen eigenen Reim machen muß. Warum keine geradlinigere Erzählung?

Ich habe ein zentrales Interview gemacht, in dem ich alle Fakten zu seinen Spionagegeschichten abgefragt habe. Ich habe eineinhalb Stunden Material gedreht – und er hat es geschafft, so gut wie nichts zu sagen. Deshalb dieses Mosaikartige. Die entscheidenden Sätze sind in dem Film drin, aber eben verstreut. Zum Beispiel die Aussage, daß er einem stellvertretenden Minister der gewählten DDR- Regierung 1990 4.000 D-Mark vom BND übergeben hat.

Die Ausgangsbedingung war, daß Barluschke nichts erzählt, was ihm schaden kann...

Das mußte ich akzeptieren, natürlich. Er war auch keine Figur wie Schalck-Golodkowski, sondern ein kleines Rädchen im Außenhandelssystem der DDR. Aber ungeheuer ehrgeizig.

Das Problem dieses Porträts ist aber kein juristisches, sondern die Figur selbst. Er ist eine Legenden- und Lügenmaschine. Ist Barluschke der eigentliche Regisseur des Films?

Gute Frage. Ich habe lange gezögert, ob ich den Film mache. Dann hat er mir von seinem Freund erzählt. Das war entscheidend: Er ist ja verklemmt – als er mir anvertraute, daß er schwul ist, wußte ich, daß man den Film machen kann. Denn Schwulsein ist ein Motor dieser Biographie. Seine erste Liebesgeschichte hat er in Spanien erlebt, wo er im Stasi-Auftrag war. Als Spion konnte er Dinge tun, die für ihn in der DDR kaum möglich gewesen wären, geschäftlich und privat. Er hat die Stasi benutzt, um aus Mittenwalde, einem Kaff, von dem schon Fontane sagte, daß man dort besser nicht hinfährt, zu fliehen. Andererseits benutzt er diese Fassade nicht nur: Er ist sie auch.

Joana, seine Frau, hat mir erzählt, daß sie in New York mal zu einer Silvesterparty gingen, wo nur Transsexuelle, Lesben und Schwule waren. Und Barluschke sagte als erstes: „Ich glaube, wir sind die einzigen normalen Menschen hier.“ Ein alberner Satz, aber in dieser Generation gab es offenbar noch diese Sehnsucht nach Normalität.

Die Nachtseite der Figur sieht man am deutlichsten in den Videotapes, die er selbst gedreht hat, die Fernbedienung in der Hand, und in denen Barluschke seine Familie malträtiert. Ist er ein Monster? Als Vater ein faschistoider Charakter?

Schwer zu sagen. Was ist ein faschistoider Vater?

Jemand, der nur durch extreme Abspaltungen existiert. Der nach außen perfekt Rollen und innen, in der Familie, den Diktator spielt. Der seine Kinder unterdrücken muß, um sich selbst lebendig zu fühlen. Und von dem Verhalten innen, in der Familie, sieht man außen nichts.

So gesehen ja.

Warum hat Barluschke diese Videoaufnahmen freigegeben? Man blickt ja in einen Abgrund: So charmant er am Anfang manchmal wirkt, so ekelhaft tritt er dort auf.

Ich glaube, er fühlt sich, ganz banal, einfach im Recht und kann sich nicht vorstellen, daß jemand das anders sieht. Ich habe mir stundenlang dieses Material angeschaut: die erschütterndsten Familiendramen, die ich je gesehen habe. Er hat einfach die Kamera in die Ecke gestellt, wie eine Überwachungskamera an einer Straßenkreuzung.

Einerseits ist es eine Selbstentblößung, sich öffentlich so zu zeigen – andererseits hat er das Geschehen immer unter Kontrolle. Er schaut zum Beispiel, während diese Familienkatastrophen passieren, ob die Kamera noch läuft. Es ist beides: Exhibitionismus und Kontrolle.

Ist Barluschke ein deutscher Charakter?

Schwere Frage: Was ist deutsch? Wahrscheinlich seine Bodenhaftung. Wo er ist, ist Mittenwalde. Egal, ob in New York oder in Paris. Dazu kommt: Maßlosigkeit. Wenn es in New York Beethoven-Konzerte gab, kaufte er Karten, die schwer zu bekommen waren, von montags bis freitags. Jeden Abend ins Konzert. Dieses Penible ist vielleicht auch deutsch.

Ist er ein Opportunist?

Ja, und mehr. Er verkörpert den eisernen Willen, nach oben zu kommen. Darin ist er bedenkenlos – im Grunde geht's ihm aber nur um die kleine private Idylle. Solche Charaktere gibt es in jeder Gesellschaft, gleich ob Diktatur oder Demokratie. Und Barluschke ist ein Prototyp. Dieses Prinzip produziert natürlich Entfremdungen. Es ist kein Zufall, daß er oft davon redet, daß ihm sein Leben wie ein Film vorkommt: unwirklich, wie jemand, der sich nicht freuen kann, weil ihm das Gefühl fehlt, daß das Leben echt ist. Deshalb auch die Manie, alles auf Video aufzunehmen.

Am Ende des Films, in Paris, schwärmt er von dem Mittagessen, das bei seiner Mutter stets um halb zwölf Sonntagmittags heiß auf dem Tisch stand. Die Mutter ist in dem Film das anwesend Abwesende. Sie wird zweimal erwähnt: Als Barluschke ins Ausland geht, sorgt er dafür, daß der Sohn seiner Schwester, die sich umgebracht hat, bei seiner Mutter aufwächst. Er geht und hinterläßt seiner Mutter, mit Hilfe der Stasi, einen Ersatzsohn. Als er 1980 zurück in die DDR muß, ist das auch eine Rückkehr zur Mutter. Er sagt: Wenn mein Freund sich in der Küche mit der Mutter unterhalten hat, dann „fühlte ich mich nicht schuldig“.

Die Mutter ist Mittenwalde. Danach sehnt er sich, und gleichzeitig ist das alles mit einem diffusen Schuldgefühl verbunden. Barluschke hat etwas Monströses, das mich fassungslos macht. Er sagt im Film über Michael, den Sohn seiner Schwester, daß in ihm fremdes genetisches Material sei, das nicht aus der Barluschke-Familie stammt. Da merkt man: Das ist eine gefährliche Figur, nicht wegen der Spionagegeschichten. Barluschke verkörpert ein verbreitetes, normales Prinzip, allerdings ins Monströse gesteigert. Er ist der aufgestiegene Kleinbürger, der sich auch in eine Art Faschist verwandeln kann. Interview: Stefan Reinecke