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Killerkinder aus Stephen Kings Romanen

Zwei 11- und 13jährige Kinder richten ein Blutbad in einer Schule an – fünf Menschen sterben. Eine Reihe von Gewalttaten durch Kinder hat in den USA die Debatte über das Jugendstrafrecht neu angeheizt  ■ Aus Washington Peter Tautfest

Um 12.45 Uhr läutete der Feueralarm in der Westside Mittelschule von Jonesboro im Bundesstaat Arkansas. Als Schüler und Lehrer die Schulgebäude verließen, um sich auf dem Hof zu versammeln, wurde das Feuer auf sie eröffnet. Viele dachten an Feuerwerkskörper und Kracher, doch bald lagen blutüberströmte Kinder auf dem Schulhof. Vier Mädchen im Alter von 11 und 12 Jahren und eine Lehrerin starben, 11 Personen wurden verletzt, vier konnten inzwischen aus dem Krankenhaus wieder entlassen werden. Alle Opfer bis auf einen Jungen, der in den Arm geschossen wurde, waren Mädchen.

Festgenommen wurden zwei Kinder im Alter von 11 und 13 Jahren, die in militärischer Tarnkleidung aus einem Wäldchen nahe der Schule wegrannten. Mitschüler vermuten, sie hätten aus enttäuschter Liebe zu Klassenkameradinnen gehandelt. Sie wurden am Mittwoch dem Richter vorgeführt. In Arkansas können Jugendliche unter 14 nicht vor ein Strafgericht gestellt werden.

Aus Ruanda meldete sich Präsident Clinton telefonisch beim Gouverneur seines Heimatstaates, Mike Huckabee, und sprach sein Beileid aus. Er versprach, die Justizministerin Janet Reno nach Arkansas zu schicken, um die Gründe für die „Welle von Gewalttaten an Schulen“ zu untersuchen.

Dies ist innerhalb kurzer Zeit der dritte Fall, der nationales und internationales Aufsehen erregt. Am 1. Dezember letzten Jahres betrat der 14jährige Michael Carneal den Schulgottesdienst seiner Schule in West Paducah, Kentucky, und erschoß drei Klassenkameraden. Er habe wie in Trance gehandelt, sagte er anschließend. Ende September hatte in Pearl, Mississippi, ein 16jähriger erst seine Mutter mit dem Messer getötet und war dann in seine Schule gefahren, wo er seine frühere Freundin und ein zweites Mädchen erschoß. Anfang Oktober wurden sechs Teenager und Freunde des Todesschützen verhaftet, die zusammen angeblich einen satanischen Kult praktizierten. Gemeinsam ist all diesen Verbrechen, daß sie in ländlichen Gemeinden begangen werden, und daß sie von Kindern begangen werden.

Jeden Tag werden 13 Kinder in den USA ermordet. Die Zahl der Kinder, die Gewaltverbrechen zum Opfer fallen, ist zwischen 1984 und 1994 auf das Vierfache angewachsen. Jedes Jahr werden 316 Jugendliche wegen Gewaltverbrechen festgenommen.

Polizei, Psychologen und Politiker suchen händeringend nach den Gründen. „Es ist leichter, an eine Waffe zu kommen, als an ein Buch“, sagt dazu Marion Wright Edelman, Leiterin von Amerikas Kinder- und Jugendlobby. „Wir haben das Monsterkind geschaffen, wie es Stephen King in seinen Romanen darstellt“, erklärt Sandy Close, Leiterin des Pacific News Service und Herausgeberin der Jugendzeitschrift Youth Outlook in San Francisco. „Jetzt sind wir soweit, daß wir unsere eigenen Kinder fürchten.“

In vielen Großstädten der USA besteht für Jugendliche eine Ausgangssperre. Letzte Woche verabschiedete die Stadt New York ein Gesetz, das Schuluniformen an öffentlichen Schulen vorschreibt. In vielen Schulen gehen Kinder durch Metalldetektoren in die Klasse.

Die Tragödie von Jonesboro wird auch der Diskussion um die Abschaffung des Jugendstrafrechts wieder Auftrieb gegeben. Seit Monaten wird im Kongreß eine Gesetzesvorlage diskutiert, welche die Vergabe von Bundesmitteln an den Strafvollzug in den Bundesstaaten davon abhängig macht, daß Jugendliche, die „erwachsene Verbrechen“ begehen, auch wie Erwachsene behandelt werden.

In etlichen Bundesstaaten ist das Jugendstrafrecht inzwischen effektiv abgeschafft. Erst Anfang der Woche veröffentliche das Justizministerium eine Studie über die Behandlung von Kindern und Jugendlichen in den Gefängnissen der Bundesstaaten Georgia, Kentucky und Louisiana. Kinder werden mit Erwachsenen zusammen eingesperrt, drei Viertel von ihnen haben nicht Gewaltverbrechen, sondern nur Bagatelldelikte begangen. Oft werden sie von Gefängniswärtern mißhandelt und sexuell mißbraucht. Die USA sind das einzige Land, in dem Minderjährige für Kapitalverbrechen zum Tode verurteilt und hingerichtet werden können.

Auf zwei Besonderheiten der US-Jugend konzentriert sich zur Zeit die Diskussion um Jugendkriminalität, auf den exzessiven Fernsehkonsum und auf die Möglichkeit, an Waffen zu kommen. 10.000 Gewaltakte hat ein US-amerikanisches Kind im Fernsehen gesehen, bevor es überhaupt zur Schule kommt. „Könnte es sein, daß sie verlernt haben, zwischen Realität und Phantasie zu unterscheiden?“ fragt sich Robert T. M. Phillips, forensischer Psychiater aus Annapolis. Und der Gebrauch von Waffen wurde in ländlichen Gebieten – anders als in den Großstädten – nie als Problem gesehen.

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