■ Wahrheit-Reporter vor Ort: Teststrecke zur visuellen Kompetenz: Blinder Fleck in Leipzig gefunden!
Leipzig (taz) – Es sieht schon komisch aus, wenn mitten im hektischen Hauptbahnhofsgetriebe ein Menschengrüppchen steht, die Arme ausgestreckt, die aufgerichteten Daumen kreiselnd, und alle wackeln hingebungsvoll mit dem Kopf: Wir sind jetzt gaaaanz entspannt. Eine junge Frau in weißem Kittel – Pflegerin? Animateurin? Ärztin? – gibt Anweisungen: Und bitte nicht das Atmen vergessen! Ein paar Meter weiter sitzen zehn Personen hintereinander auf Decken wie meditierende Buddhisten und halten sich ein kariertes Blatt Papier vor die Nase. Ein Mann im Trenchcoat hat seine Berufstätigenmappe neben sich gelegt. Eigentlich wollte er nach Hause. Was macht er hier eigentlich?
Wir befinden uns in der Vorbereitungsphase der „Teststrecke zur visuellen Kompetenz“, Leipzig Hauptbahnhof, Mittwoch nachmittag. Ein paar behelmte Gleisarbeiter schauen aus sicherer Entfernung zu, ein Bahnpolizist spricht in sein Funkgerät, und die Jugend lungert drüben vor McDonald's. Was haben sie zu bedeuten, die drei schwarzen, meterhohen Quader mit der Aufschrift ZEIT, RAUM und FORM? Oben, auf einer Plattform, sitzen Leute und schauen durch ein Teleskop. Was sie sehen, erzählen sie über Lautsprecher: „Ich sehe Steine. Sie sind warm. Angenehm.“ – „Ich sehe eine schöne Frau. Sie lächelt mir zu. Jetzt ist sie weg.“
„Der Bahnhof als Ort radikaler Synchronisierung, das strenge, fast immer verläßliche Regime nationalen und internationalen Schienenverkehrs bringt Fahrpläne hervor, an die sich Reisende zu halten haben. Jedes subjektive Handeln unterliegt einer derartigen Order. Sie ist Garant für einen geregelten Ablauf...“ So steht es auf einem Schild mit der Überschrift „Bild- Ton-Korrespondenz. Experiment zur visuellen Codierung des Zeitgefühls.“ Neugierige, die stehenbleiben, erhalten die Auskunft, daß hier wissenschaftliche Versuche demonstriert werden. Anläßlich der Verleihung des deutschen Studienpreises der Körber-Stiftung hätten die Preisträger beschlossen, das Ghetto der Wissenschaft zu verlassen und öffentlich vorzuführen, womit sie sich beschäftigen. Transparenz, Bürgernähe, ein gutes Werk also.
Wer möchte, kann auf die Teststrecke gehen und seinen „visuellen Führerschein“ erwerben. Dafür bekommt er einen Laufzettel ausgehändigt, auf dem die Testergebnisse eingetragen werden. Die visuell Kompetentesten dürfen am abschließenden Großversuch „Sehen ohne Augen – Wahrnehmung im blinden Fleck“ teilnehmen. Wichtige Menschen in weißen Kitteln, mit Blöckchen und Mikrofonen bewaffnet, eilen nervös auf und ab. Presse ist schon reichlich versammelt, Fernsehkameras werden aufgebaut, erste Interviews geführt: Was sehen Sie?
Was niemand weiß: Hinter der Inszenierung stehen die „Story Dealer“ aus Berlin, eine Gruppe, die sich auf öffentliche Inszenierungen spezialisiert hat. So betätigten sie sich unter anderem schon als Archäologen und begannen in einem Züricher Stadtpark mit Ausgrabungsarbeiten. Streng wissenschaftlich und so perfekt, daß selbst Fachleute auf die Aktion hereinfielen. Für das Leipziger Experiment ging man noch raffinierter vor. Denn die beteiligten Wissenschaftler sind nicht gelogen: Es sind die wirklichen Preisträger, 70 Studenten, die in diesem Fall aber trotzdem nur Wissenschaftler spielen. In einer nächtlichen Aktion, so erzählt Hans Geißlinger von den „Story Dealern“, habe man sich ins Leipziger Zentralstadion begeben und dort die Rollen einstudiert. Denn jeder muß erklären können, was er tut und vom heiligen Ernst seiner wissenschaftlichen Mission durchweht sein. So findet nun also ein Theaterstück statt, und wie jede Inszenierung ist auch diese Wirklichkeit.
Was da geschieht, ist nicht einfach nur blöd. Keine stupide Verarsche à la „Versteckte Kamera“. Den „Pulfrich-Effekt“ zum Bespiel, den gibt es, und es ist recht eindrucksvoll zu beobachten, wie zwei brav schwingende Klötzchen sich plötzlich umeinander zu drehen scheinen, wenn man eine Brille mit einem abgedunkelten Glas aufsetzt. Man kann auch Höhenangst per Höhenangstdetektor messen: Dazu steigt man über ein Gerüst auf einen der Quader, setzt einen Helm auf, an dem ein Lot angebracht ist, beugt sich über die Brüstung und zeichnet mit dem Lot Spuren in eine fünf Meter tiefer stehende Sandkiste.
Dafür gibt es dann Punkte, und wie überall, wo es Punkte gibt, entwickelt sich sportiver Ehrgeiz. Ein junger Mann mit Pferdeschwanz teilt ungefragt mit, daß er glaube, sehr gut im Rennen zu liegen: „Jetzt noch ans Blickfanggerät“, sagt er, „dann hab ich's.“ Hier geht es darum, einen Laserstrahl mittels Spiegel ins Zentrum einer Zielscheibe umzuleiten. Das kann er auch. Ganz toll. Oder spielt er bloß?
Der Ernst des Spiels beginnt erst mit dem abschließenden „Großversuch“, der nun von einer lasziven Frauenstimme über den Bahnhofslautsprecher angekündigt wird. Zwei Drittel der 30 Testpersonen sind Eingeweihte, ein Drittel besteht aus den ehrgeizigsten Absolventen der Teststrecke. Wer hier Schauspieler, also wirklicher Forscher ist und wer nur hineingestolperter Passant, läßt sich nicht unterscheiden. Dumpf grollende Musik setzt ein, und der Versuchsleiter bitte um Konzentration. Die Probanden besteigen ein Podium, setzen eine schwarze Augenklappe auf und darüber eine Spezialbrille: ein häßliches Plastikgestell, an dem kleine Elektroteile angebracht sind und ein Kabel, das zu einer zentralen Computerstation zu führen scheint. Mit den Brillen werde, so der Versuchsleiter, die Bewegung des rechten Auges „gescannt“ und im Rechner visualisiert. So soll es möglich werden, eine „neue Erlebnisintensität“ zu erzeugen und „die Wahrnehmung im blinden Fleck des menschlichen Auges kollektiv möglich zu machen“. Das klingt ziemlich bescheuert, aber niemand wundert sich darüber. Oder sind womöglich alle hier Schauspieler – außer mir? Nur ein kleines Kind, das auf den Schultern seines Vaters reitet, weiß Bescheid: „Das sind keine echten Brillen. Das sind nur Menschen von uns!“ Die Pressefotografen werden ermahnt, jetzt nicht zu blitzen. Ein Journalist bedrängt eine Wissenschaftlerin (weißer Kittel!) am Computertisch (vier Monitore, sehr imposant!): „Mit welchem Ergebnis rechnen Sie? Ein räumliches Bild?“ – „Eher ein Bild, das für uns nicht sichtbar ist. Der blinde Fleck ist sehr abstrakt.“ – „Aha. Danke.“
Die Probanden starren nun auf ein schwarzes Kreuz auf weißer Leinwand. Ein roter Laserpunkt zittert hin und her. Die Musik wird lauter. Computertrommelwirbel. Auf den Bildschirmen sieht man wild zappelnde Farbsäulen, wahrscheinlich 30 Stück, die immer höher steigen. Kleine Punkte sammeln sich in der Mitte des Bildschirms. Der blinde Fleck? „Sie kumulieren, sie kumulieren!“ ruft der oberste Techniker am Mischpult (verdammt viele Knöpfe, sehr imposant!). „1 Prozent noch. Sehr gut. Es klappt. Jetzt beginnt Phase zwei. Unglaublich. Ja. Ja. Wir sind drin. Es ist stabil. Wahnsinn. Wir haben es geschafft.“
Das war's schon? Zu sehen war nichts. Benommen klettern die Probanden von der Bühne. Einer fällt glaubwürdig in Ohnmacht und muß vom DRK behandelt werden. Doch das Spiel ist noch nicht aus. Es folgen die Fernsehinterviews – und erst hier zeigt sich, daß das Experiment funktioniert hat: Auch die Uneingeweihten haben „etwas gesehen“. Eine Frau verspürte eine kribbelnde Wärme, die aus den Beinen in den Bauch stieg. Einem Mann flimmerte es vor den Augen, und nun fühlt er sich seltsam leer. Ein Junge klagt über schwere Beine. Und schwierig war's, ja. Und aufregend. Ein Mädchen bildet mit den Händen einen Kreis und stammelt immer wieder: „Ich hab' ihn gesehen, ich hab' ihn gesehen.“
So hatten also am Ende tatsächlich auch die etwas gesehen, die nichts gesehen hatten. Das war der nicht sichtbare Teil des Experiments. Wahrheit, so scheint es, ist immer das, was mit besonders hartnäckiger Impertinenz vorgetragen wird. Dabei könnte es durchaus sein, daß alle Menschen Schauspieler sind. Überall. Das würde den Umgang mit der Wirklichkeit jedenfalls sehr erleichtern. Jörg Magenau
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