: Was kostet eine Insel in der Elbe?
Sie war das Symbol für den Widerstand einer Stadt gegen ihren Senat. Sie war der Grund dafür, daß es in Hamburg eine Grün-Alternative Liste gibt. Altenwerder. Die einst verschlafene Elbinsel weicht einem gigantischen Hafenprojekt. Die Grünen sitzen mittlerweile im Senat. Und in Altenwerder arrangiert man sich mit seiner Abwicklung. ■ Von Heike Haarhoff
Daß er jetzt ja „die Negernutten ficken“ könne, jetzt, wo er „das große Geld“ gemacht habe, diesen Spruch hat Bauer Schwartau ihnen nicht verziehen. Eine Schlägerei freilich mochte der betagte Landwirt deswegen nicht anzetteln. Und so hat er seinen alten Nachbarn in Hamburg-Altenwerder bloß beleidigt den Rücken gekehrt – nach einem halben Jahrhundert.
Hat mit dem „großen Geld“, das er kürzlich von der Stadt Hamburg kassiert hat, weil er als einer der letzten Haus und Hof in Altenwerder an sie verkaufte, sich eine reetgedeckte Bauernkate im benachbarten Stadtteil Francop geleistet. Sieben oder acht Millionen, so wird im Dorf gemunkelt, sollen es „bestimmt“ gewesen sein. Schwartau hat sich dort zur Ruhe gesetzt. Hat erst „den Betrieb versoffen“, dann „rumgeheuchelt in Sachen Hafenerweiterung“ und schließlich doch verkauft: hat Altenwerder verraten. Sagen die Mißgünstigen.
Blicken lassen im Dorf oder dem, was vom Dorf übrig geblieben ist, mag sich Bauer Schwartau heute jedenfalls nicht mehr. Bei Feinkost Wülfken am Altenwerder Elbdeich, wo Schwartau früher einholen ging, lungern jetzt „die anderen“ herum. Die wohl deshalb dort sind, weil auch Schwartau im Kampf gegen die Hafenerweiterung aufgegeben hat.
Noch vor Sonnenaufgang stehen „die anderen“ bei Feinkost Wülfken Schlange. Der Bombensucher, der Strom- und Hafenbauer. Der Containerstapler von Eurokai, der Hagere vom privaten Sicherheitsdienst, der Wasserschutzpolizist, der Baggerführer. Und Hansaport-Manfred in Thermojacke. Jeden Morgen, jeden Werktag, jedenfalls hungrig.
Endlich öffnet Hans Adolf Wülfken die Ladentür. Es ist Montag morgen in Hamburg-Altenwerder, es ist kurz nach sechs. Der Bombensucher dreht den Motor seines Autos erst gar nicht ab. Schnurstracks stiefelt er, die graue Wollmütze tief ins Gesicht gezogen, zur Wursttheke hinten rechts im Laden. Das Mett wird hier fingerdick gestrichen; deswegen, grinst der Bombensucher, komme „Wülfken seine Frau“ der großen Nachfrage nach ihren selbstgeschmierten Brötchen kaum nach. „Zwei Belegte“, ein halber Liter Fertigkakao, eine Schachtel Marlboro. „Neun Mark achtzig“, sagt Hans Adolf Wülfken vorn an der Kasse – auf Auktionen dürfte die als Liebhaberstück zu handeln sein – und dann ist der Bombensucher samt seinem Frühstück auch schon wieder raus aus dem Geschäft.
Hans Adolf Wülfken streicht sich die wadenlange, weiße Schürze über dem Bauch glatt, guckt durchs Schaufenster dem davonfahrenden Wagen hinterher. 69 Jahre ist er, 69 Jahre in Altenwerder. Links des schmalen Altenwerder Elbdeichs erstreckt sich kilometerweit die platte Sandwüste. Kein Baum, kein Strauch, kein Haus – außer natürlich Feinkost Wülfken. Mit seinem skurrilen Sortiment aus Soßenbinder, verstaubten Schnapskartons und Landser-Heftchen erinnert das Geschäft eher an eine Tante-Emma-Oase aus den fünfziger Jahren als an den einzigen Supermarkt auf Hamburgs größter Baustelle an der Schwelle zum 21.Jahrhundert.
Hansaport-Manfred rollt einen Liter Zitronenlimo, einsdreißig, über die Resopalplatte bis zur Kasse. Schwielige Hände verstauen die Flasche im Blaumann. Die Thermojacke darüber spannt. Schönen- Tach-bis-morgen, die Schicht im Hafen beginnt pünktlich.
1904 hatte Hans Adolf Wülfkens' Großvater das Familiengeschäft eröffnet. Die „Räumung zum Zwecke der Hafenerweiterung“ Mitte der siebziger Jahre, die anschließende Zerstörung des Fischerdorfs in einer bundesweit beispiellosen Abrißaktion, die Aussiedlung von 2.000 Einwohnern und der danach folgende, zwanzigjährige Planungsstillstand, währenddessen Altenwerder zum Biotop verwuchs – Wülfken hat die Bilder alle im Kopf, „aber irgendwie kann ich heute schlecht sagen, wo was war“.
In der Morgendämmerung lassen sich die Ausmaße dessen, was laut Straßenschild ein „Achtung: Spülfeld, Lebensgefahr“ ist, ohnehin nur erahnen. Der Bombensucher kurvt mittlerweile gen Horizont. „Tja“, seufzt Ladeninhaber Wülfken, „der Kampfmittelräumdienst hat hier eben immer noch zu tun.“ Immer noch werden Granaten und Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg unter der ehemaligen Idylle aus hochstehenden Wiesen und verwilderten Obstgärten vermutet. Dabei wird bereits seit eineinhalb Jahren die Elbinsel gepflügt und gerodet.
Seit das Hamburgische Oberverwaltungsgericht die Klagen der letzten Einwohner von Altenwerder gegen die Hafenerweiterung abgewiesen hat. Seit entschieden ist, daß die Stadt das Biotop gleich neben dem Elbtunnel bis Anfang des nächsten Jahrtausends in ein gigantisches Containerterminal mit Kaimauern, Hafenbecken, Dienstleistungs- und Güterverkehrszentrum verwandeln darf. Für die „wachsenden Warenströme der Zukunft“, von denen vor allem die Wirtschaftsbehörde träumt.
Von 700 Jahren Fischerdorf Altenwerder bleiben nur noch Kirche und Friedhof übrig. Und die Mondlandschaft vor Feinkost Wülfkens Ladentür. „Pearl River, ja. Ham wir gehabt.“ Zwei Millionen Kubikmeter Sand aus der Elbe – täglich mehr als 800 Lkw-Ladungen – hat die Pearl River, einer der weltgrößten Laderaumsaugbagger, allein im vergangenen Jahr „aufgespült“, wie es im Fachjargon heißt. Die drei Meter dicke Sandschicht soll das Gelände sturmflutsicher machen.
Ob das nicht bitter mitanzusehen ist? Hm-ja-schon. Aber Hans Adolf Wülfken mag jetzt wirklich nicht drüber reden. Unverwandt starrt er auf die Einmalrasierer im Plastikbeutel über seiner Kasse. „Ich hab's doch gesagt, mit der Presse, nein, da will ich überhaupt nichts mit zu...“
„Drei Brötchen, und, ach ja, eine Bildung, bitte.“ Der Containerstapler von Eurokai. Das Boulevardblatt zerknittert zwischen Holzfällerhemd und Wollweste. „Ob jetzt wohl wirklich der Aufschwung kommt?“ brummelt der Hafenarbeiter in den Bart. „Ja, wenn's der Kohl doch sagt in der Zeitung.“ Hans Adolf Wülfken klingt unwirsch. Sechs Uhr vierzig, und irgendwer wird gleich kommen, um seine Großbestellung belegte Brötchen abzuholen. Die Zöllner? Die Chefs vom Strom- und Hafenbau? Oder doch der private Sicherheitsdienst, der die Baustelle im Auftrag der Stadt rund um die Uhr vor militanten Hafenerweiterungsgegnern schützen soll? Hans Adolf Wülfken rauft sich das gescheitelte Pomadehaar, er weiß es nicht mehr genau. Aber achtmal Tilsiter, fünfmal Kochschinken, dreimal Leber- und sechsmal Jagdwurst, soviel steht fest, müssen dringend geschmiert werden.
Einen „Kriegsgewinnler“ nennen ihn viele hier im Hamburger Süden deswegen. Seit jeher hätten die Wülfkens, „diese Geheimniskrämer“, ihre Fahne nach dem Wind gedreht, stets auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Als eine der ersten hätten sie, still und klammheimlich, dem Druck nachgegeben und ihr Haus an die Stadt verkauft, damals Mitte der siebziger Jahre. Und jetzt mache er, Wülfken, schon wieder den großen Reibach. Als einer, dem sie unterstellen, „die Milch noch zwei Wochen nach Verfallsdatum“ im Regal anzubieten. Und er darf ja, das hat vor Jahren ein Gericht entschieden, den Laden solange betreiben, wie hier Menschen zu versorgen sind. Derzeit sind es noch neun – genauer gesagt: die Familien Oestmann und Boelke – hinten am Dreikatendeich mit Blick auf die Elbe, dort, wo irgendwann die Kaimauern hin sollen.
Heinz Oestmann, 48, Vollbart, verheiratet, vier Kinder, hat hier den Fischereibetrieb seines Vaters übernommen und ein lebenslanges Wohnrecht in seinem Elternhaus, das demnächst endet. Weil Oestmann schließlich – gegen Geld und Grundbesitz – drauf verzichtet hat, nach 25 Jahren zermürbendem Rechtsstreit mit dem Senat der Freien und Hansestadt. Spätestens Ende Mai werden auch Christel und Werner Boelke, Mitte 40, Lehrer, Hausbesitzer, Altenwerder-Kläger, mit ihrem Sohn wegziehen. Darauf hat man sich mit der Stadt geeinigt, und dann setzt sich wohl auch Wülfken zur Ruhe. Ein zweites wirtschaftliches Standbein – ein Lebensmittelgeschäft außerhalb Hamburgs – hat er sich längst aufgebaut. Es gibt eine Perspektive nach Altenwerder.
Hans Adolf Wülfken stützt sich mit einer Hand auf die Kasse, die andere winkt ab. „Es ist das Geld. Das Geld hat hier alle auseinandergetrieben“, sagt er leise. Ein rot aufgedunsenes Gesicht, das an der Kasse auftaucht und einen Flachmann verlangt, guckt ihn verlegen an. „Nee, du bist schon in Ordnung“, murmelt Wülfken. Aber ansonsten seien „die hier alle zerstritten“, mischt sich ein anderer Kunde ins Gespräch. Selbst „die Aufrechten“, die zwanzig Jahre lang und bis vor wenigen Monaten noch in Initiativen vereint die solidarische Gemeinschaft beschworen, die ökonomische Notwendigkeit des Hafenausbaus bestritten und seinen ökologischen Schaden verurteilten, guckten sich jetzt „mit dem Hintern nicht“ mehr an.
„Und als der Schwartau verkauft hat, war's ganz vorbei.“ Der habe schließlich das meiste Land und damit das größte Widerstandspotential gegen die Stadt besessen. Ohne seinen Grundbesitz Altenwerder verhindern? Undenkbar. Beste Freundschaften seien daraufhin in die Brüche gegangen. „Und immer geht's um Geld, wieviel Entschädigung hat wer gekriegt.“ „Ausgespielt“ habe die Stadt die Leute gegeneinander, mit jedem einzeln verhandelt, einige „erpreßt“. Bis das gegenseitige Mißtrauen so groß war, daß die letzten Altenwerder ihr Haus unbemerkt „bei Nacht und Nebel“ räumen wollen. „Der Boelke“, argwöhnt Wülfken, „kauft auch nur noch das Nötigste bei mir, seit er zu Geld gekommen ist.“
Als die Bagger im Frühsommer 1997 bis vor die Haustür des Lehrers gerollt waren und die Vögel nicht mehr wußten, wo sie landen sollten, weil es in Altenwerder außer Stümpfen keine Bäume mehr gab, hielt auch Boelke, der 25 Jahre lang und bis zuletzt vor Gericht gezogen war, es nicht mehr aus und verkaufte. Die Stadt lohnte es ihm. Und so kommt es, daß die Metro-Großhandelskarte, die man neuerdings aus Boelkes Portemonnaie herauslugen gesehen haben will, über Nacht zum Indiz des eifersüchtig beäugten jungen Wohlstands geworden ist.
Kurz nach acht. Die Sonne und die Ladentür gehen fast gleichzeitig auf, und herein kommt der, den die Bild neulich als „Rebell von Altenwerder“ betitelt hat und der jetzt nach „einer MoPo und dem Abendblatt“ dröhnt. Heinz Oestmann. Vielleicht, weil er nicht nur Fischer ist, sondern wirklich verwegen aussieht mit dem wirrgelockten grauen Haar und den weit über hundert Kilo, die er auf die Waage bringen muß. Weil er einst vertragswedelnde Staatsräte mit der Mistgabel vom Grundstück seiner Eltern verjagte und dann „fünf Jahre lang nicht die neue Wohnung meiner Mutter betreten“ hat, als die sich gegen seinen Willen entschloß, doch mit Altenwerder abzuschließen. Weil Oestmann die Symbolfigur des Widerstands in Altenwerder ist und als solche von der Hamburger Grün-Alternativen Liste in ihrer Gründungsphase in den frühen achtziger Jahren in die Bürgerschaft genötigt wurde – polternd, fluchend, alle und jeden duzend. Bis er „das von der Gesundheit und vom Kopf her nicht mehr durchgestanden“ hat.
„Laß uns rausgehen“, sagt er. Draußen steckt er sich erst mal eine Zigarette an. Ein Stückchen links, immer entlang des Spülfelds, dann biegt der Asphaltweg um die Ecke, und da ist es – sein Haus. Inmitten der Ödnis. Natürlich backsteinrot. Eins will er mal klar stellen: „Das war hier immer ein stinkkonservatives Dorf. 50, 60 Prozent CDU-Wähler, genau wie ich, ich wollte ja auch immer nur das Gute des Alten bewahren.“ Wollte. „Der Bruch“, sinniert er, „war das absolute Verschwinden der Bäume.“ Damals, ein gutes Jahr ist das her, als „nur 70 von den 7.000 Einwendern gegen die Hafenerweiterung zur Demo kamen“. Da wurde Oestmann klar, daß es „niemanden mehr gibt, der die Umwelt vertritt“.
Nicht mal die GAL? „Das meint die Krista Sager vielleicht, weil sie grüne Socken anhat.“ Da hat Oestmann die Pogo- Partei gewählt und dem Wirtschaftssenator einen Brief geschrieben. Hat sich darauf eingelassen, daß er demnächst, Ende Mai, „nach unserer Silberhochzeit“, mit Familie und Fischereibetrieb ins benachbarte Finkenwerder umsiedeln wird. Auf ein Grundstück, das so groß ist, daß seine Frau sich sogar noch mit einem Fischrestaurant selbständig machen kann. Wo mindestens drei seiner vier Kinder mal „einen ordentlichen Job“ haben werden. „Du mußt an die Zukunft denken“, sagt Oestmann, und es klingt nicht, als habe er diesen Satz einstudieren müssen.
Was hält ihn hier schon noch? Die „verklärte Dorfgemeinschaft, von der alle schwafeln“, bestimmt nicht. Selbst mit Werner Boelke, seinem Schulfreund, späteren Nachbarn, jahrzehntelangen Vertrauten und Verbündeten, ist er „durch“. „Geld“, sagt Oestmann, und dann sagt er erst mal nichts mehr. Die Fischerfeste. Die gemeinsamen Pressekonferenzen. Das Bierchen am Gartenzaun. Der Tag beim Oberverwaltungsgericht, als Werner Boelke die Tränen in den Augen standen. Als Oestmann geiernden Journalisten drohte, sie kriegten „gleich eins in die Fresse“, wenn sie sich „nicht bald verpißten“. Oestmann zieht an seiner Lord-Extra. „Was heißt Freunde? Wir waren halt 25 Jahre Kampfgefährten.“
Er schließt die Haustür auf. Gepackt ist drinnen noch nichts, aber das wird, wenn es soweit ist, schnell gehen. Und danach will Oestmann „nie wieder“ zurückkehren. Außer ein einziges Mal: dann, wenn sie sein Haus abreißen. Seine Frau wird sich „das nicht antun“. Er schon: „Da geht's um die Pfahlbauten. Wenn sich herausstellt, daß das Haus doch auf Pfahlbauten gebaut wurde, kriege ich 20.000 Mark mehr von der Stadt.“
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