Europa wertet China auf: Auf dem Londoner Gipfeltreffen erkennt die EU die weltpolitische Bedeutung Pekings an. Statt die Menschenrechte einzuklagen, suchen die Europäer den Dialog. Doch Menschenrechtler sind skeptisch, und der Dissident We

Europa wertet China auf: Auf dem Londoner Gipfeltreffen erkennt die EU die weltpolitische Bedeutung Pekings an. Statt die Menschenrechte einzuklagen, suchen die Europäer den Dialog. Doch Menschenrechtler sind skeptisch, und der Dissident Wei Jingshen warnt vor einem Chaos

Reformstaat oder Pulverfaß?

So etwas hatten Londons Spitzenmanager noch nicht erlebt: Da kommt Chinas neuer Premierminister Zhu Rongji nur zwei Wochen nach seiner Amtseinführung auf seiner ersten Auslandsreise nach Großbritannien und tritt dann mitten im Finanzdistrikt auf, als wäre er hier zu Hause. In der altehrwürdigen Guild Hall sprach die Nummer drei der chinesischen Hierarchie 40 Minuten ohne Manuskript über Chinas Wirtschaftsreformen und die Krise in Asien. Dabei ist Zhu der erste chinesische Premier, der seit dreizehn Jahren seinen Fuß auf britischen Boden setzt, was auch der Queen einen Small talk wert war.

Als während Zhus betont charmanter und witziger Rede in der vollbesetzten Guild Hall zwei Demonstranten eine tibetische Flagge entrollen und „Freiheit für Tibet“ fordern, ignoriert er sie. Vielmehr betont er, daß China mehr Mittel zur Bewältigung der Asienkrise bereitgestellt habe als Großbritannien, und kündigt an, auch Indonesien zu helfen, wenn dies von Jakarta gewünscht werde. Zwar fordert Zhu die versammelten Geschäftsleute auch auf, weiter in China zu investieren, doch er ist in London kein Bittsteller, sondern vielmehr der „Stargast“ (Financial Times). Diese Rolle kommt Zhu auch auf dem heute in der britischen Hauptstadt beginnenden Asien-Europa-Gipfel (Asem) der 25 Staats- und Regierungschefs zu. Wie kein zweiter repräsentiert er das neue gewachsene chinesische Selbstbewußtsein auf der internationalen Bühne. In der Asienkrise ist die Volksrepublik bisher fast ungeschoren davongekommen und spielt mit ihrer Währungspolitik eine konstruktive Rolle. Während der Wirtschaftsgroßmacht Japan immer wieder vorgeworfen wird, die eigene Konjunktur nicht in Schwung zu bekommen und damit zur Lösung der Krise letztlich nichts beizutragen, sind Europas Politiker voll des Lobes über Peking. „China hat im kritischen Moment eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung gespielt. Es hat den Weg gezeigt, wie eine Großmacht ihrer Verantwortung gerecht werden sollte“, so Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac.

Die Europäer sind froh, nicht mehr mit dem ungeliebten Li Peng verhandeln zu müssen, der für das Tiananmen-Massaker von 1989 verantwortlich gemacht wird. Zusätzlich kommt dem im Unterschied zu Li weltgewandten Zhu persönlich eine Schlüsselrolle zu. Denn nicht zuletzt vom Gelingen seiner Wirtschaftsreformen hängt es ab, wie schnell die Asienkrise überwunden werden kann. Chinas neues Gewicht auf der weltpolitischen Bühne erkennt jetzt auch die Europäische Union an, deshalb bat sie Zhu gestern direkt vor dem Asem-Treffen zum ersten EU- China-Gipfel. Noch gestern nachmittag trafen sich Großbritanniens Premier Tony Blair (amtierender EU-Ratspräsident) und der Präsident der EU-Kommission, Jacques Santer, sowie Vizepräsident Leon Brittan mit Zhu zum Meinungsaustausch. Geht es nach den Europäern, soll es künftig jährlich solche Treffen als Grundlage eines umfassenden Dialogs geben.

In der vergangenen Woche hat die EU-Kommission ein 25seitiges Papier verabschiedet, in dem sie ihre China-Strategie formuliert. In dem Dokument mit dem Titel „Aufbau einer umfassenden Partnerschaft mit China“ heißt es, Ziel der EU müsse sein, die Weltmacht China möglichst schnell in die internationale Gemeinschaft zu integrieren. Auf wirtschaftlichem Gebiet spricht sich die Kommission für die schnelle Aufnahme Chinas in die Welthandelsorganisation WTO aus, macht aber die Öffnung und Liberalisierung der chinesischen Märkte zur Vorbedingung.

Zur Menschenrechtsfrage heißt es: „China ist noch weit von der Einhaltung international akzeptierter Menschenrechtsstandards entfernt.“ Trotzdem wird eine Verbesserung der Lage in den letzten zwanzig Jahren festgestellt. Neben den durch die Wirtschaftsreformen ausgelösten Verbesserungen werden Reformen der Gesetzgebung und die Einführung von Wahlen auf Dorfebene als Verbesserungen genannt. Die gegenwärtig angemessenste Form der EU, zur Verbesserung der Menschenrechtslage in China beizutragen, sei deshalb die Fortsetzung des Menschenrechtsdialogs ohne Vorbedingungen. Daneben werden die Unterstützung von Rechtsreformen und der Aufbau eines Trainingszentrums für die Dorfwahlen genannt.

Das Papier erwähnt nicht explizit den Beschluß der EU-Staaten vom Februar, in diesem Jahr auf den Versuch zu verzichten, vor dem UN-Menschenrechtsausschuß eine Verurteilung Chinas zu erreichen. Das Papier begründet aber indirekt den Entschluß und kommt einem Eingeständnis der Kommission gleich, daß die bisherige Politik nicht gefruchtet habe. Ob die neue Politik erfolgversprechender ist? „Wir haben überhaupt nichts gegen den EU-China- Gipfel, er sollte nur die Überprüfung der Menschenrechtslage nicht ersetzen. Es bedarf klarer Maßstäbe, was zur Verbesserung der Menschenrechte getan werden muß“, sagt Marike Radstaake vom EU-Büro der Menschenrechtsorganisation amnesty international. Der EU-China-Gipfel sei nur möglich geworden, weil die EU eine Verurteilung Chinas von der Tagesordnung in Genf gestrichen habe. „Entscheidend ist, was in China vor Ort passiert. Die EU- Kommission bewertet die Entwicklungen in China zu positiv. So werden Folter oder die Bedingungen in den Gefängnissen nicht erwähnt.“ Internationaler Druck sei weiter notwendig, meint Radstaake, „und hier hat die EU einen Rückzieher gemacht“. Sven Hansen, London