piwik no script img

Zwischen weiß und weise

Bilden bis ans Lebensende: In den neuen Bundesländern gehen viele Menschen nach dem Ende des Berufslebens nochmal an die Uni. Sie wollen die neue Zeit meistern lernen und oft auch ihren Kindern und Enkeln beim Start in den Beruf kenntnisreich zur Seite stehen  ■ Von Kathi Seefeld

Semesterauftakt, das Übliche. „Ich möchte heute keine Einführungsvorlesung halten...“, hebt Dozent Olaf Freymark an – beim „sondern“ klappt zum ersten Mal die Tür. Die Nachzügler zwängen sich durch die Stuhlreihen. Drei Minuten später erwischt einer gerade noch den letzten Platz, ganz hinten am Fenster. Um dorthin zu gelangen, müssen zwanzig Leute wieder hoch, raus aus ihren Sitzen. Typisch StudentInnen!? Vielleicht. Allerdings haben jene, die hier zum Semesterauftakt an den Lehrstuhl für Medienpädagogik und Erwachsenenbildung der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg gekommen sind, bereits fünfzig und mehr Jahre Lebenserfahrung im Gepäck. Die älteste Teilnehmerin ist 81.

Fast allen dieser Studierenden gemein ist die Erfahrung, mit der Wende überraschend, oft unfreiwillig aus dem Arbeitsleben geschieden zu sein, so wie etwa zwei Drittel der zirka 2,35 Millionen 50- bis 60jährigen in den neuen Ländern. Allein in Magdeburg leben etwa 40.000 VorruheständlerInnen. Auf der Suche nach neuer persönlicher und sozialer Kompetenz im Prozeß der deutschen Einheit genügten vielen Volkshochschule oder Urania nicht mehr. Mit ihrem Anspruch an ein lebenslanges Lernen und dem Willen, die neue Zeit zu meistern, begannen sie, Rechts- und Politikwissenschaft zu studieren, oder sie beschäftigten sich mit Betriebswirtschaft – nicht selten, um Kindern und Enkeln beim Start in die berufliche Selbständigkeit zur Seite zu stehen. Und sie hatten keine Scheu, als Oma oder Opa nochmal Hörsaalbänke zu drücken.

Kaum anders die Situation in Berlin. Im großen Hörsaal der Charité tummeln sich jeden Mittwoch nachmittag die älteren Semester. Gut 300 StammhörerInnen zählen die Veranstaltungen, die im Wechsel von der im Westteil der Stadt 1983 entstandenen „Berliner Akademie für weiterbildende Studien“ und dem Ostkind „Seniorenuniversität“ organisiert werden. Auch hier ist das Gros der Teilnehmer weiblich, kommt in der Mehrheit aus dem Osten und ist zwischen 50 und 60 Jahren alt.

„Lernen im Alter“ hat deutschlandweit eine lange Tradition. Während in den alten Bundesländern verstärkt seit 1974 eine Öffnung für ältere Semester an verschiedenen Hochschulen einsetzte, waren in der DDR zum Beispiel die „Universität der Veteranen der Arbeit“ an der Berliner Humboldt-Universität oder die „Veteranenkollegs“ in Halle und Leipzig hoch geschätzt.

Nach der Wende sollte an den Hochschulen in den neuen Ländern an diese Traditionen nicht ohne weiteres angeknüpft werden. In Magdeburg ging damals die Diskussion darum, „was die Alten denn an der Uni wollten“, sogar bis in die Hochschulleitung.

Erst ab 1992 bekannte sich die Otto-von-Guericke-Universität mit „Studieren ab 50“, dem wissenschaftlichen Bildungsangebot für ältere Erwachsene, das es in der einen oder anderen Form mittlerweile an jeder zweiten Hochschule gibt, nicht nur als Beraterin in Altersfragen, sondern auch als Anbieterin bei der Wiederfindung verlorener Identitäten. Inzwischen, so Olaf Freymark, präsentiert sich die Uni mit „Studieren ab 50“ ausgesprochen gern in der Öffentlichkeit. „Es gibt keine vergleichbaren Angebote in der Region.“ Die ZuhörerInnenschar wächst jährlich um zirka 20 Neuzugänge, liegt nun bei rund 200 SeniorInnen. „Fast alle sind beruflich hoch qualifiziert und vermissen die sozialen Kontakte nach ihrem Ausscheiden aus dem Arbeitsalltag“, sagt Freymark. In den alten Bundesländern rafften sich dagegen sehr oft die noch älteren, 60- und 70jährigen, oder Hausfrauen, die ihr eigenes berufliches Fortkommen für Ehemänner und Familie hintenan gestellt hatten, zum Gang an die Uni auf.

Während das Seniorenstudium in Berlin noch kostenlos angeboten wird, bezahlen die TeilnehmerInnen in Magdeburg 50 Mark, die aber nur dem Angebot zufließen. „Wir können daher für jeden offen sein, der interessiert ist“, sagt Olaf Freymark. Ein Frau, die in einem Bestattungsunternehmen arbeitet, kann regelmäßig die Lateinvorlesungen besuchen, auch wenn sie nie Latein gelernt hat. Wenn sich im Sommer mit Beginn der Reise- und Gartenzeit die Reihen der großmütter- oder -väterlichen StudentInnen lichten, ist auch das kein Problem. „Durch zusätzliche Hörer in den Vorlesungen entstehen schließlich keine Zusatzkosten.“ Und an Zertifikaten ist den Älteren kaum gelegen. Ein 61jähriger Exlehrer, der vor sechs Jahren begann, Politikwissenschaft zu studieren und nun seine Magisterarbeit einreicht, ist die Ausnahme.

Als Olaf Freymark an diesem Nachmittag seinen Einführungsvortrag beendet, schreckt in den hintersten Bankreihen jemand aus seinem Nickerchen auf. Den einen oder anderen Notizblock zieren Strichmännchen und andere Kunstwerke. Und irgendwer hat wiedermal nicht mitgekriegt, wann die Stadtführerausbildung beginnt. StudentInnen eben!

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen