: Schuld und Routine
Das PEN-Zentrum Ost hat auf seiner Jahrestagung in Berlin die Vereinigung mit dem West-PEN beschlossen. Ob das etwas nützt, steht dahin. Denn die unbewältigbare Vergangenheit hat einen Namen: Erich Köhler. „IM Heinrich“ bleibt hartnäckig Mitglied ■ Von Jörg Magenau
Wenn ich das Wort PEN höre, entsichere ich normalerweise meinen Revolver. Sollen sie sich doch endlich vereinigen, der Ost- und der West-PEN. Sollen sie es lassen. Wen kümmert's? Die Institution, die Kalten Krieg und deutsche Teilung ungebührlich in Doppelgestalt überlebte, fiel seit 1990 nur durch ihre Querelen auf. Der Verdacht lag nahe, daß der PEN allein deshalb an immerwährendem Zank um die Vergangenheit und ihre „Bewältigung“ festzuhalten gedachte, weil er fürchten mußte, sonst sofort vergessen zu werden.
So wäre die Jahrestagung des Ost-PEN im Berliner Künstlerclub „Die Möwe“, auf der nun ein in gemeinsamer Kommission von Ost und West ausgearbeiteter „Verschmelzungsvertrag“ mit 60 zu 2 Stimmen angenommen wurde, mit einem Aufatmen zu vermelden. Wenn Anfang Mai auch noch der West- PEN auf seiner Sitzung in München zustimmt, dann ist es endlich vollbracht, und man darf das neue „PEN-Zentrum Deutschland“ zu den Akten legen. Aber so einfach geht es auch diesmal nicht. Aus der Routinesitzung in Berlin wurde ein Drama mit einem bühnenreifen zweiten Akt und einem weit offenen Ende.
Milde und melancholisch gestimmt waren die überwiegend grauhaarigen Vereinsmitglieder am Freitag morgen zum Treffen erschienen, das voraussichtlich ihr letztes sein sollte. „Willkomm und Abschied“ stand auf einem Plakat am Eingang. Generalsekretär Jochen Laabs, der die Kollegen mit „Liebe Gemeinde“ begrüßte, fühlte sich österlich gestimmt – in thematischer Nähe von Grablegung und Auferstehung. Am Vertrag bemängelte die liebe Gemeinde lediglich das unschöne Juristendeutsch. Da hätte man gern noch ein bißchen redigiert, um der eigenen Autorenhaftigkeit genüge zu tun. „Verschmelzungsvertrag“ – das klang ihnen allzu sehr nach Kernschmelze. Andere litten stärker darunter, daß Darmstadt (aus finanziellen Gründen) als Verwaltungssitz vorgesehen ist: „Das ist geographisch und politisch weit weg.“ Aber die Aussicht auf ein Berliner Regionalbüro tröstete auch über den partiellen Heimatverlust hinweg. Die Abstimmung war nur noch formale Routine.
Aber dann. Thomas Reschke verlas mit donnernder Stimme den Abschlußbericht des „Ehrenrats“, einer Art Wahrheitskommission des PEN. Sie wurde zur Klärung von Stasi-Vorwürfen geschaffen und hatte sich in dreijähriger Arbeit redlich bemüht, mit allen Beschuldigten in einen „Dialog zu treten“ und sie möglichst zum Austritt zu bewegen. Das gelang auch meistens: Heinz Kamnitzer, altgedienter Präsident des PEN-Ost und Stasi-Agent verließ den Verband, ebenso wie Hermann Kant, Zensurchef Klaus Höpcke oder der Schriftsteller Fritz Rudolf Fries alias „IM Pedro Hagen“. Hans Marquardt, zu DDR-Zeiten Leiter des Reclam-Verlags in Leipzig und ebenfalls mit der Stasi kooperierend, hatte seinen Austritt angeboten, war aber vom PEN umgestimmt worden: Seine Verdienste um die Literatur wögen schwerer als seine Vergehen.
Bleibt einer: Erich Köhler, der „IM Heinrich“. Und der bleibt ohne Gnade. 1991 wurde er erst zugewählt, ist also keine „Altlast“, sondern eher die Wiederkehr des Verdrängten. Nun saß er ganz vorn an einem Tisch, mit dem Rücken zum Podium, ein kleiner grauer Mann mit Glatze und fettigem, nackenlangem Haarkranz. Er kniff die Augen zusammen und hörte sich Reschkes Donnergrollen an: Köhler habe sich jedem Gespräch verweigert, ja schlimmer noch, er habe den Ehrenrat als revanchistisch geschmäht, ihm unterstellt, „er wolle Königsberg wiederhaben“ und ihn, Köhler, zum „Verbrecher abstempeln“. Klaus Schlesinger, den er einst bespitzelte, habe er „Medientingelei“ vorgehalten und gesagt: „Wenn ich gewußt hätte, daß der PEN zur Falle für ehemalige Stasi-Mitarbeiter wird, wäre ich nie eingetreten.“ Kein Schuldbewußtsein also, keine Reue. Was macht man mit so einem? Soll man wegen ihm seine heiligen Prinzipien opfern?
Als unantastbare Maxime des Ost-PEN gilt, niemanden auszuschließen. Das ist aller Ehren wert. Der West-PEN wiederum möchte sich keinesfalls mit Erich Köhler vereinigen und verlangt den Ausschluß als Bedingung der Vereinigung. Das kann man verstehen. So kommt diesem Mann, der immer der erste ist, der am Anfang des Jahres seinen Mitgliedsbeitrag bezahlt, das Privileg zu, das letzte Einheitshindernis zu sein. Hier sitzt er nun. Darf man hassen?
Köhler, aufgefordert etwas zu sagen, erhob sich und drehte sich einmal um sich selbst, um das Publikum im überfüllten Saal auszumessen. Gebannte Stille. Nur die Fernsehkameras surrten: Ein Stasi-Spitzel in öffentlicher Anhörung, das gibt's nicht alle Tage. Köhler rezitierte stockend eine Palmström-Geschichte von Christian Morgenstern, kaum zu verstehen, aber irgendwie als Parabel gedacht. Und setzte sich wieder. War's das schon? Unruhe im Saal.
Doch dann begann er, der sich einst mit Büchern über das Leben in der LPG einen Namen machte („Das Pferd und sein Herr“), in einer hohen, brüchigen Stimme zu sprechen: In der PEN-Charta stehe nichts davon, daß eine vergangene IM-Tätigkeit offengelegt werden müsse. Als er 1991 beigetreten sei, gab es die Stasi schon längst nicht mehr. Den Ehrenrat lehne er ab, da der sich „einseitig kapriziert“. Das hänge damit zusammen, „daß auf dem Staatsratsgebäude, 800 Meter von hier, der schwarze Bundesadler flattert. Das sagt doch alles. Man hätte ihn doch wenigstens mit einem Ährenkranz umgeben können.“ Stasi-Geschrei, so Köhler, sei die Kehrseite von Kulturabbau, Sozialabbau, Arbeitsplatzabbau und Nazi-Träumen in der Bundeswehr: „Wir leben in einer Reaktionsperiode.“ Die DDR dagegen war die „schutzwürdige Alternative der deutschen Geschichte“. Die Rede vom „Unrechtsstaat“ wolle er nicht mittragen. „Wenn etwas gegen die PEN-Charta verstößt, dann die inquisitorische Umtriebigkeit.“
Bleierne Stille. Was Köhler sagte, fanden in dieser Runde manche richtig. Aber mit so viel Sturköpfigkeit hatte niemand gerechnet. War denn die Vergangenheit nicht eben noch bewältigt gewesen? Schienen die Dinge nicht bestens geordnet? B.K. Tragelehn verlor die Geduld und brüllte los wie ein strafender Vater: „Was fällt dir ein, Erich! Schlesinger war doch nicht die Konterrevolution!! Der Ehrenrat ist doch kein McCarthy-Ausschuß!!! Das ist doch absurd!!! Was willst du denn im PEN, wenn du ihn als so eine Institution ansiehst?“
Eine berechtigte Frage. Doch Köhler, dieses gallische Dorf, dieser sture Rächer der enterbten DDR, beschloß, jetzt nichts mehr zu sagen: „Was ich zu sagen habe, habe ich gesagt.“ Werner Liersch plädierte, da „keine Einsicht vorhanden“ sei, für „eine Entscheidung ohne Köhler“. Andere fanden die Situation „ganz unerträglich“, ein Schauprozeß sei das, in aller Öffentlichkeit. So etwas könne man, wenn überhaupt, nur unter sich verhandeln. Genau das ginge nicht mehr, erwidert Steffen Mensching, der dem Ehrenrat angehört. „Dann würde man uns wieder den Vorwurf der Geheimniskrämerei machen. Die Öffentlichkeit ist die Folge dessen, daß Köhler sich verweigert hat.“ Und B.K. Tragelehn fand es „wichtig“, daß die anwesenden Kollegen aus dem West-PEN einmal sehen, wie schwierig das ist mit der Vergangenheit, wenn es nicht nur um Namen geht, sondern um verstockte, leibhaftige Menschen.
Es gibt Situationen, in denen alles, was gesagt wird, richtig ist, und alles, was man tun kann, falsch. Das ist die Stunde der Pastoren, und so meldete sich erwartungsgemäß Pfarrer Schorlemmer zu Wort: „Was wir hören ist schmerzhaft, obwohl, oder nein: weil es die Wahrheit ist.“ Sicher: Es gehe nicht an, daß Köhler sein damaliges Tun mit der heutigen politischen Situation rechtfertige. Aber: Klaus Schlesinger, der von Köhler bespitzelt wurde, habe gesagt, daß er mit Köhler in einem PEN „leben könne“. Für Schlesinger sei der Fall erledigt. Dürfen andere dann unversöhnlicher sein?
Schlesinger saß in der Ecke und schwieg. Schorlemmer überlegte unterdessen, was die Konsequenz wäre, wenn Köhler nun Reue zeigte. „Würde sich damit für uns etwas ändern? Wenn nicht, dann wäre das nur ein leeres Ritual.“ Diese Sehnsucht nach der Praktizierbarkeit des theologischen Dreischritts Schuld, Reue und Vergebung entlockte Christa Wolf den Ausruf: „Friedrich, das sind doch Illusionen! Das habt ihr doch nicht mal in der Kirche!“ Und in Köhlers Richtung rief sie: „Erich, das ist nicht die Wirklichkeit, glaube mir!“
Aber was ist die Wirklichkeit? Wer glaubt wem? Wir müssen etwas tun, sagten die einen. Was können wir denn tun? Heißt handeln nur ausschließen? fragten die anderen. Bedeutet Toleranz nicht, gerade das auszuhalten, was schmerzt? Jürgen Rennert, der sich als ein zu Unrecht in IM-Verdacht geratener Autor vorstellte, lobte Köhlers „rebellischen Geist“. Seine Texte hätten in der DDR „Mut gemacht“, und nun sei er ein Stück „nicht verdrängter DDR-Wirklichkeit“. Martin Weskott, ein langbärtiger Pfarrer, plädierte schließlich für eine Ende der Debatte. „Köhler ist nicht zu überzeugen. Das müssen wir ertragen und akzeptieren. Diese Grenze ist nicht durch Rituale zu bewältigen.“ Und so beendete man die Diskussion. Ratlos. Erregt. Die Vergangenheit in Gestalt von Erich Köhler bleibt unbewältigt und gegenwärtig.
Vielleicht ist das ja auch ganz gut so. Ein PEN, in dem noch nicht alles Störende entsorgt ist, verspricht jedenfalls größeren Unterhaltungswert und größere Notwendigkeit, als einer ohne Ecken und Kanten. Ein solcher PEN kann als Bühne für die deutschen Nöte funktionieren. Die Anwesenheit Köhlers dürfte jedenfalls die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auch in Zukunft befeuern. Hans-Otto Conrady, Präsident des Westteils, zeigte sich allerdings besorgt, wie er „seinen Leuten“ dieses Ergebnis plausibel machen solle. „Das geht nur mit politischer Argumentation“, sagte er. „Der politische Schaden eines Scheiterns der Fusion wäre allemal größer.“ Doch vielleicht gibt es für den PEN ja noch eine andere Lösung: Er könnte den Ost-PEN pro forma bestehen lassen. Einziges Mitglied: Erich Köhler. Und alle anderen vereinigen sich weg.
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