„Ich will nach Hause und Bauer werden“

In Kambodscha sind mehrere hundert Soldaten der Roten Khmer zur Regierungsseite übergelaufen  ■ Aus Preah Vihear Jutta Lietsch

Lautes Klopfen tönt aus dem Wrack des umgestürzten und zerbrochenen Hubschraubers. Vorsichtig schiebt sich ein Soldat aus dem Cockpit, im Arm die Trophäe – ein Scheinwerfer, völlig unzerstört. Selbstvergessen streicht er über den silbrigglänzenden Schatz. Der junge Kambodschaner mit wirrem schwarzem Schopf, grüner Drillichhose und Plastikschlappen tut so, als höre er den tobenden Hauptmann Sang Saravy nicht, der auf dem Sockel der Tempelruine mit gezückter Pistole steht und den Plünderern befiehlt, unverzüglich die Maschine zu verlassen. Langsam tauchen aus dem Inneren drei weitere Soldaten auf, es sind fast noch Kinder. Sie ziehen widerwillig davon, einer hält ein orangenes Sitzkissen in der Hand, der andere ein Stück Metall. Der Offizier steckt sein Schießeisen wieder ein.

Ein ungewöhnlicher Anlaß, eine ungewöhnliche Begegnung an einem ebenso ungewöhnlichen Ort: Noch vor wenigen Tagen hätten sich der Hauptmann der kambodschanischen Regierungsarmee und die Roten Khmer gegenseitig umgebracht, nun kann sich Offizier Sang Saravy wie ihr Vorgesetzter aufführen. Denn seit dem 29. März ist der Krieg in dieser Ecke im Nordwesten Kambodschas vorbei. An jenem Tag desertierten mehrere hundert Soldaten unter dem fünfzigjährigen Roten- Khmer-General Im Houen auf die Seite der Regierung. „Wir waren das Kämpfen leid“, sagt der General. Der zerstörte Helikopter vom russischen Typ MI-8, der nun in diesem Minenfeld liegt, gehört zu den Maschinen der Regierung, die seit der Aufgabe der Roten Khmer täglich Soldaten und Geheimdienstler, neue Uniformen, Lebensmittel und Funkgeräte herantransportieren.

Beim Anflug am Mittwoch drücken tückische Winde den Flieger an den Hang. Abgebrochene Rotorblätter, die rund 50 Meter entfernt den Boden durchpflügen, zünden zwei Minen. Wie durch ein Wunder überleben alle 35 Insassen die Bruchlandung fast unbeschadet – die Soldaten, eine Gruppe von 14 JournalistInnen, darunter die Berichterstatterin, und ein Händler, der nun die Roten Khmer auf dem Berg mit singapurianischem „Tiger“-Bier versorgt. Die meisten Passagiere haben Prellungen und blaue Flecken davongetragen. Der Pilot brach sich das Bein.

Seit dem 29. März weht über den Ruinen der tausendjährigen Tempel von Preah Vihear die Fahne des kambodschanischen Staates. Und seitdem hat der 44jährige Sang Saravy mit 100 Regierungssoldaten am Sitz der Götter Stellung bezogen: eine mächtige Anlage von Hallen, Bassins und Treppen aus großen, mit hinduistischen Motiven behauenen Steinquadern, die sich über 800 Meter von Nord nach Süd erstreckt. Bis heute künden die grau- verwitterten Säulen und windschiefen Tore, kopflosen Löwen und die steinerne mythische Schlange Naga von der einstigen Pracht der vier Tempel. Ihre einzigartige Lage auf dem Hochplateau in den Dangrek-Bergen macht Preah Vihear zur uneinnehmbaren Festung: Nach Süden fällt das Kliff über 500 Meter steil in die Tiefe. Nach Norden, zur thailändischen Grenze, die hier einen kurzen Fußmarsch entfernt verläuft, verhindert ein dichtes Minenfeld jeden Vorstoß des Feindes. „Wir hätten die Tempel niemals erobern können, auch mit tausend Soldaten nicht“, sagt Sang Saravy.

Die neue grüne Mütze mit dem goldglänzenden Abzeichen der Regierungsarmee auf dem Kopf, lehnt der 45jährige Phon Pan an einer Säule des Tempels neben seinem neuen Chef. Seit 1979, als die vietnamesischen Truppen die Roten Khmer aus der Hauptstadt Phnom Penh vertrieben und eine neue Regierung einsetzten, hat er die „Marionetten der Yuon“ bekämpft. Er benutzt, wie viele Kambodschaner, die verächtliche Bezeichnung für die Vietnamesen. Aber er hat nur noch einen Wunsch: „Ich will nach Hause, Bauer werden.“

Nach vierzigjährigem Kampf scheint die berüchtigte Organisation, die den Tod von mehr als einer Million Menschen zu verantworten hat, jetzt an sich selbst zugrunde zu gehen. Nicht die militärische Überlegenheit der Regierungstruppen, sondern ideologische Härte und Korruptheit der Roten-Khmer-Führung hat sie die Bastion Preah Vihear verlieren lassen. Über zweitausend Soldaten der Roten Khmer haben nach Angaben der Regierung in den letzten zwei Monaten die Seite gewechselt. „Sie haben uns versprochen, wir könnten unsere Ränge behalten“, sagt General Im Houen, der nach 28 Jahren bei der Organisation seine Uniform mit zivilem Hemd und Hose vertauscht hat.

Ausgelöst hat die Meuterei offenbar die Weigerung des starken Mannes der Roten Khmer, Militärchef Ta Mok, die strenge Disziplin seiner Untertanen zu lockern. Die Bauern müssen ihren Reis, Schweine oder ihre anderen Produkte an die Führung abgeben, um die Armee zu ernähren. „Unsere Familien durften nur ihre schmalen Rationen behalten, aber mit Überschüssen keinen Handel treiben“, berichtet General Im Houen. Vor allem war es verboten, die Waren über die nahe Grenze nach Thailand zu verkaufen. „Wir hatten nichts. Meine Kinder sind nicht zur Schule gegangen, wir bekamen kaum Medikamente, die Soldaten lebten von Reis und Trockenfisch“, klagt der Phon Pan bitter, „aber die Chefs hatten alles.“

Der einbeinige Ta Mok, der wegen seiner Grausamkeit während der Herrschaft der Roten Khmer zwischen 1975 und 1979 als „der Schlächter“ bekannt wurde, hatte seinen langjährigen Chef Pol Pot im vergangenen Juni nach einem blutigen Machtkampf abgesetzt. Viele der damals auf rund 60.000 geschätzten Bewohner der von den Roten Khmer beherrschten Gebiete hofften danach auf bessere Zeiten. Doch Ta Mok entpuppte sich als ein Dr. Jekyll und Mr. Hyde der Roten Khmer: So streng er alle kapitalistischen Anwandlungen seiner Untertanen verfolgte, so großzügig trat er in der thailändischen Grenzprovinz Sisaket auf. Dort besitzt er ein Haus, seine zahlreichen Verwandten verwalten Tankstellen, ein Sägewerk und Supermärkte. Das Geld stammt offenbar aus den Holzverkäufen der Roten Khmer.

Unter einem Felsvorsprung zündet ein junger Mann im grünen Khakianzug das Feuer unter einem Aluminiumtopf an. Über sein lilafarbenes Hemd hat er einen Gurt mit fünf schwarzen Handgranaten gebunden. Lächelnd bietet er Kaffee, Reis und Trockenfisch an. In der traditionellen Geste der Höflichkeit beugt er den Kopf und macht sich klein, wenn er an den Fremden und an ranghöheren Soldaten vorbeigeht – so wie es sich für einen gut erzogenen kambodschanischen Jungen gehört.

Kun Sotheas Lehrmeister war jedoch keine bürgerliche Familie, sondern Ta Mok. Lange diente er als einer der zwei Dutzend Leibwächter des Militärchefs. Die Geschichte des jungen Mannes ist typisch für die Schicksale im vom Bürgerkrieg zerrissenen Kambodscha: Eines Tages vor sechs Jahren stieß eine Gruppe der Roten Khmer auf den Fünfzehnjährigen, der seine Familie in den Wirren verloren hatte und sein Geld als Holzfäller im Dschungel verdiente. „Einer von ihnen sagte, er werde mich zu meinem Bruder führen, der jetzt bei der Organisation sei“, erinnert sich Kun Sothea.

Den Bruder fand er nie. Statt dessen holte ihn der Militärchef in seine Leibwache – und schickte ihn dann in die Tempel von Preah Vihear, die seit fünf Jahren in der Hand der Roten Khmer waren und die Ta Mok regelmäßig besuchte. Für deren Pracht hatte der Junge allerdings wenig Sinn – er langweilte sich schrecklich. Rund 400 Meter entfernt endet die breite asphaltierte Straße, die die Thailänder zum Tempel gebaut haben, den sie lange Zeit für sich beanspruchten. Erst in den sechziger Jahren schlug der Internationale Gerichtshof in Den Haag die Anlage Kambodscha zu.

Für das Rote-Khmer-Fußvolk wie Kun Sothea war die nahe Straße nach Thailand unerreichbar. Für die Soldaten gab es nichts, als immer wieder auf schmalen Pfaden unter den mit alten Geschützen chinesischer Bauart gespickten Tempeln zu patrouillieren – und die Hoffnung, dabei nicht auf die eigenen Minen zu treten. Nur ein- bis zweimal im Jahr durften die Soldaten ihre Familien oder Freundinnen besuchen. Wenn es kurz nach 6 Uhr abends dunkel wurde, blinkten die Lichter der thailändischen Orte auf, von deren Leben Kun Sothea nur träumen konnte. „Ich hatte es satt“, sagt er. Als General Im Houen seinen Leuten am 28. März die Entscheidung bekanntgibt, zur Regierung überzuwechseln, schließt sich der junge Leibwächter ohne langes Zögern den Überläufern an. Seine ehemaligen Kameraden bleiben Ta Mok treu und verschwinden im Dschungel.

„Jetzt wird es gut“, sagt Kun Sothea hoffnungsvoll. „Ich werde nicht mehr Soldat sein. Ich werde reisen, die Welt sehen und viel Geld verdienen.“ Doch wenn es das Schicksal will, werden ihn die neuen Herren in den Kampf gegen seine früheren Freunde schicken. Denn die Roten Khmer, die sich nun „Nationale Solidaritätspartei“ nennen, geben sich bislang nicht geschlagen. Zwar wurde der harte Kern der Organisation Ende März von Abtrünnigen und Regierungstruppen aus seinem rund 70 Kilometer weiter westlich gelegenen Stützpunkt Anlong Veng vertrieben. Aber von einem Versteck im undurchdringlichen und verminten Wald entlang der thailändischen Grenze aus befehligt Ta Mok seine restlichen Truppen weiter. Niemand weiß, wie viele Soldaten er noch kommandiert. Es könnten zweihundert sein oder mehr als tausend. Das Radio der Roten Khmer strahlt Siegesmeldungen und Haßtiraden gegen die „vietnamesischen Marionetten“ in Phnom Penh und gegen die Verräter in den eigenen Reihen aus.

Kurz nach der Bruchlandung in Preah Vihear schickt der Sender seine Version der Ereignisse durch den Äther: „Am 1. April wurde ein Helikopter der kommunistischen Marionetten durch die Nationale Heilsfront abgeschossen. Zwei Minen, die später explodierten, töteten und verletzten mehrere Insassen.“ Die Meldung sollte beweisen, daß der Stützpunkt nach wie vor in den Händen der Roten Khmer ist – die Götter und die Menschen in den Tempeln wissen es besser.