: Kann Rudolf Steiner keiner?
Das „öffentliche“ Bild der Anthroposophie prägt demonstrative Aufgeschlossenheit. Doch es gibt eine Reihe von Themen, über die ein Dialog nicht erwünscht ist ■ Von Alfred Kolberg
Wer eine Veranstaltung anthroposophischer Einrichtungen besucht, wird die bemüht freundliche Atmosphäre bemerken. Eine Gemeinschaft, in der jedeR jedeN mag? Der Freundlichkeit haftet jedoch etwas Formales an. Eingeweihte wissen, daß Sympathie und Antipathie in der anthroposophischen Lehre weniger als Gefühle denn als Zeichen einer tieferen Dimension bedeutsam sind, die sich nur über die neutralisierte Sicht von „Seelenaugen“ erfassen läßt. Schnell wird deutlich, daß hier nicht die Beliebigkeitskultur des postmodernen Zeitgeists herrscht, sondern die in sich ruhende Gewißheit, auf dem rechten Weg zu sein. Differenzen werden, auch in anthroposophischen Publikationen, nur mit äußerster Vorsicht behandelt. Vorträge und Nachmediation erscheinen als probate Mittel, nicht die kontroverse Diskussion. Der Anthropos der Anthroposophie ist kein Suchender, er weiß. Von anderen will er nichts, er hat zu geben.
Sorgsam pflegen Anthroposophen ihr öffentliches Image: Biologisch-dynamischer Landbau, Unterstützung fairer Welthandelsbeziehungen, ganzheitliche Medizin, Naturkosmetik und „alternative“ Waldorf-Pädagogik sind präsentable Markenzeichen. Zum geschätzten Außenbild gehört auch das kulturell-musische Interesse, das teilweise kulthafte Züge trägt – besonders den ersten Wahlverwandten der Anthroposophie, Goethe, betreffend.
Die zweite Seite der Anthroposophie hingegen, ihre okkult esoterische Weltsicht, blieb in der Vergangenheit weitgehend im Hintergrund. Seit der in den 80er Jahren auf breiterer gesellschaftlicher Basis eingetretenen Rückkehr zum Mythos, zur „neuen Gnosis“, wie Micha Brumlik es nennt, gibt es jedoch ein verstärktes Interesse auch am geistigen Fundament und eigentlichen Ziel der Anthroposophie: der „Erkenntnis höherer Welten“. So faszinierend der Gedanke, in diese einzudringen, sein mag, so nahe rückt freilich der Glaube, daß solches gelingen könnte, seine Verfechter an die Grenze zur Religionsgemeinschaft, vielleicht sogar zur Sekte. Aus Angst vor diesem Imagewandel wird mancher Lehrinhalt in der Öffentlichkeit lieber umgangen oder nur sehr dosiert dargeboten.
Der Glaube an die Wiedergeburt und das selbstverschuldete Schicksal in der Karma-Lehre gehören ebenso zum nur behutsam mitgeteilten Bestand der anthroposophischen Weltanschauung wie die Annahme einer historischen Stufenfolge großen Stils. Beginnend mit dem legendären Reich „Atlantis“ befinden wir uns demnach in der „fünften nachatlantischen Periode“, innerhalb derer sich zwischen dem Jahr 1413 und 3573 die „Wiedervergeistigung des Ich“ ereignen soll. Einst sollen aus uns sogar Wesen werden, die ihre Nachkommen durch pures Denken zeugen können. Wie selbstverständlich gehen Anthroposophen davon aus, daß die Menschen neben ihrem physischen Leib „feinstofflich“ von einem Äther- und Astralleib sowie einer äußeren Ich-Hülle umgeben sind, die mit der weltgeschichtlichen Inkarnation des Geistigen korrespondieren.
Theoretische und praktische Probleme bereiten so lebensnahe Fragen wie die Zulässigkeit von Fernsehen und Fußballspiel für Anthroposophen oder das auffällig sprachlose Verhältnis zur Sexualität. Wenig für die Öffentlichkeit geeignet erscheint auch die Beibehaltung ihrer für den Geschichtsverlauf als bedeutsam angenommenen „Rassen“-Lehre. Höhere und niedere „Wesenheiten“ begleiten den anthroposophischen Alltagsweg, Engel und „Volksseelen“ haben ebenso Einfluß wie die Hilfen und Versuchungen der zwiespältigen Kräfte des lichtbringenden Luzifer und des erdenschweren Ahriman.
Trotz der betonten Abgrenzungsbemühungen von falschem Mystizismus klingt dies alles nach der Eigenwelt einer Sekte. Dagegen spricht freilich das innerweltliche Engagement der Anthroposophie. Sie bietet ihre Dienste allen an, wirkt in Politik, Wirtschaft und Kultur mehr oder weniger kenntlich mit und muß sich von daher auf allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen beziehen.
Bei alldem gilt es jedoch, in der Lehre fest zu bleiben. Die Gesetze anthroposophischer „Geisteswissenschaft“ bestimmen das Maß der Einlassungen, nicht der lebendige Prozeß. Individualität, nach außen als hohes Gut gehandelt, hat hier ihren Wert nur als Teil des Ganzen. Dem Geistesschüler wird nahegelegt, „Devotion“, nicht Kritik, zu üben.
Mehr noch: Anthroposophische Kreise enthalten sich nicht nur der Kritik, sie lassen sie auch nicht an sich heran. Während andere gesellschaftliche Gruppen, wie die großen Kirchen, sich zum Dialog genötigt sehen, zeigt sich die Anthroposophie weitaus verschlossener. Heiner Ullrichs erkenntnistheoretische Einwände, Klaus Pranges unerschrockene Pädagogensicht, Heiner Barz' vermittelnde Kritik, aber auch extremere Ansichten, wie die von Wolfgang Treher unter viel zu rigoros definierten psychoanalytischen Gesichtspunkten vorgenommene Beschreibung Rudolf Steiners, sind seitens der Anthroposophen ebenso weitgehend unbeantwortet geblieben wie die kritischen Reflexionen ehemaliger Waldorfschüler.
Erst wenn es gelänge, das „freie Geistesleben“, mit dem die Anthroposophie so gerne wirbt, in der Auseinandersetzung lebendig werden zu lassen, wäre die auch in Teilen der Bewegung gewollte Wandlung von einer sektenähnlichen Gemeinschaft mit monolithischer Weltanschauung zu einer diskursiv-entwicklungsfähigen in Sicht.
Als zentrale Hürde erweist sich dabei das unfreie Verhältnis der Anthroposophen gegenüber der schon früh zum Mythos erstarrten Leitfigur Rudolf Steiner. Seine Werke werden wie heilige Texte gelesen, Biographien gleichen Huldigungen an einen Übergeist. Steiners Quellen, von den theosophischen Konstrukten altindischer Philosophie bis hin zur psychologischen Ratgeberliteratur seiner Zeit, wurden von ihm selbst als „innere Schau“ und als Lesen in der alle Entwicklung umgreifenden „Akasha-Chronik“ gedeutet; das putzt, und alle bestaunen nun des Kaisers alt-neues Gewand. Kann „Dr. Steiner“, wie er von vielen seiner Anhänger ebenso ehrerbietig wie anachronistisch genannt wird, wirklich keiner?
Wie schwer es ist, sich relativ eigenständig im anthroposophischen Raum zu bewegen, zeigen besonders die wenigen Versuche, die es gibt: etwa die um Arfst Wagner zentrierte Debatte zur Rolle der Anthroposophie im Nationalsozialismus. Die offene Diskussion vieler Fragen steckt noch sehr in den Anfängen, manche Anthroposophen würden sie gern weitertreiben, andere am liebsten schnell wieder beenden.
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