piwik no script img

Lettland fürchtet um sein Ansehen

■ In Riga halten viele die Anschläge für eine russische Provokation. Doch jetzt beginnt die längst fällige Debatte über die Vergangenheit

Riga (taz) – „Lettland muß jetzt Rückgrat zeigen“, bemerkte der lettische Präsident Guntis Ulmanis am Dienstag in einem Interview im staatlichen Rundfunk Lettlands. Die Ereignisse der letzten fünf Wochen, zuletzt die beiden Anschläge auf die Synagoge in Riga am 3. April und auf die russische Botschaft am 5. April, haben eine heftige öffentliche Diskussion über Lettlands Position innerhalb Europas, sein Verhältnis zu Rußland und seine innere Stabilität hervorgerufen. Die ungerechtfertigten Anschuldigungen aus Moskau über angebliche Menschenrechtsverletzungen und die Diskriminierung der russischen Minderheit, vor allem aber die Reaktionen westlicher Diplomaten und Politiker auf die Gedenkfeier für die „Lettische Legion“ am 16. März steigern die Sorge vor einer internationalen Isolation Lettlands.

Nicht zuletzt die Bemerkung von Bundeskanzler Helmut Kohl, der ausgerechnet während seines Besuchs in Moskau sein Mißfallen über Lettland äußerte, geben hier vielen das Gefühl, der Westen glaube den russischen Polemikern mehr als den Tatsachen. „All das in den vergangenen sechs Jahren so mühsam Erreichte haben wir innerhalb von zwei Wochen wieder verloren“, beklagt sich ein frustrierter lettischer Staatspräsident, „ich fühle mich, als sei ich bestohlen worden.“

Viele sehen in den beiden Bombenanschlägen, die nach Angaben der Polizei mit großer Wahrscheinlichkeit von denselben Leuten verübt wurden, eine Provokation. Sie werden überwiegend als Versuch verstanden, Haß zwischen Letten und Russen zu schüren sowie Lettlands Ansehen zu schaden. „Das alles ist vom russischen Geheimdienst inszeniert“, meint eine Frau. Eine lettische Hochschuldozentin hält die gesamte Kampagne Rußlands für ökonomisch motiviert. Rußland ärgere sich über Lettlands Vereinbarungen mit Norwegen über die Lieferung von Gas.

Während es bei den Bombenanschlägen nun vorrangig um die Ergreifung der Täter geht, gibt der Gedenktag für die „Lettische Legion“ Anlaß zu weit tiefergehenden Debatten in der lettischen Öffentlichkeit. Zunächst scheint sich auch diese Diskussion vor allem um das internationale Ansehen Lettlands zu drehen. Die Tatsache, daß der Kommandeur der lettischen nationalen Streitkräfte, Juris Dalbins, in Uniform an der Gedenkfeier teilnahm, obwohl ihm vom Verteidigungsminister dringend davon abgeraten worden war, läßt an der Kontrolle des Militärs ernsthaft zweifeln. Daran ändert auch die Tatsache wenig, daß Dalbins gestern zurücktrat.

Das Unverständnis des Westens über die lettische Gedenkfeier für eine ehemalige Einheit der deutschen Waffen-SS haben in der lettischen Öffentlichkeit aber auch die Frage nach dem eigenen Geschichtsverständnis aufgeworfen. Ulmanis hat wohl recht, wenn er bemerkt, daß die Letten viel zu sehr verinnerlicht hätten, auf ihre Geschichte nur „durch Tränen, Leiden und durch Schimpfworte“ zu blicken, niemals aber „klar“. Man könne die historischen und geographischen Fakten nicht ändern. Und eine Tatsache sei nun einmal, daß selbst wenn die bei der Legionsgründung 1943 18- und 19jährigen lettischen Legionäre, die hauptsächlich an der Ostfront gegen die russische Armee eingesetzt wurden, selbst glaubten, für ein freies Lettland zu kämpfen, sie dies doch auf seiten des faschistischen Deutschland taten. „Lettland wird seine eigenen staatlichen Interessen niemals mit Hilfe fremder Besatzungsmächte verwirklichen“, sagte Ulmanis.

In Lettland hat noch immer keine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte während der wechselnden Besatzungen stattgefunden. Die häufig anzutreffende Meinung, Hitler sei verglichen mit Stalin ein braver Junge gewesen, und die Teilnahme eines lettischen Militärkommandanten an den Gedenkfeiern für die Legion, zeigen einmal mehr, wie notwendig eine solche Auseinandersetzung ist. Vor diesem Hintergrund haben die Ereignisse der letzten Wochen vielleicht auch positive Konsequenzen. Eva-Clarita Onken

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen