: Indizienprozeß: Besser als Fernsehen
■ Prozeßtourismus statt Kaffeefahrt: Die Prozeßbesucher zankten sich um die besten Plätze und kommentierten lauthals das Geschehen im Saal
Der Richter bemüht, der Staatsanwalt sardonisch, der Angeklagte erstarrt, der Verteidiger zurückhaltend, die Medienvertreter aufgestachelt. Und das Publikum aggressiv. Seit Klaus Geyer sich vor der Schwurgerichtskammer des Braunschweiger Landgerichts verantworten mußte, war die Stimmung der Prozeßbesucher auf besondere Weise aufgeladen. Der Beruf des Angeklagten, der eigentümliche Kitzel, über die Sünden eines Gerechten mit zu Gericht zu sitzen, trieb sie immer wieder auf die Bänke des Saales 118. So, als handele es sich um eine öffentliche Inquisition zu ihrem Gaudi.
Bereits Stunden vorher rückten sie in Gruppen an. Meist fortgeschrittenen Alters, den Imbiß im zahlreichen Gepäck verstaut, versperrten sie sämtliche Gänge des Gerichtsgebäudes, zankten sich um die Eintrittskarten und die besten Plätze. Prozeßtourismus statt Kaffeefahrt. Prima Unterhaltung.
Noch in der ersten Verhandlungswoche schienen die AnhängerInnen Klaus Geyers – viele von ihnen aus seiner Gemeinde – die Überhand zu haben. Doch im weiteren Verlauf kippte auch deren Stimmung um. Jede Unschuldsbeteuerung des Pfarrers quittierte sein Publikum mit häßlichem Lachen. Jede Erwähnung seiner Liebes- und Sexgeschichten wurde gierig registriert – und dann lauthals mit zynischen Zwischenrufen kommentiert. Und wenn Pastor Klaus Geyer einen längeren Redebeitrag beendete, höhnte es „Amen!“ aus dem Saal.
Beliebter als der Angeklagte waren beim Publikum die Sachverständigen. Besser als Fernsehen, wenn einem Bilder von Leichen in verschiedenen Stadien der Verwesung präsentiert werden. Oder wenn der Pathologe mit einem Kuhfuß auf den Original-Schädel der getöteten Veronika Geyer- Iwand einschlägt. Hatte ein Gutachter eine besonders gute Vorstellung gegeben, bedankte sich die Zuhörerschaft mit Applaus. Das hatte es im Gerichtssaal auch noch nicht gegeben.
Immer wieder drohte der Vorsitzende Richter den Besuchern mit Ausschluß. Wie eine renitente Schulklasse hielten sie dann kurz und erschrocken still – um später vor den Türen des Gerichtssaals zur Höchstform aufzulaufen. Hatte der Staatsanwalt acht Jahre Haft gefordert? „Mindestens zehn!“ krakeelte einer. Und eine andere ließ keinen Zweifel daran, daß sie noch ein bißchen lieber den Pastor brennen sehen würde.
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