■ Querspalte: Vor dem Fernseher geblieben
Alle riefen, doch kaum jemand ist gekommen. Nicht einmal 50.000 sollen es am dritten Aktionstag der Arbeitslosen bundesweit gewesen sein. Selbst Hertha BSC wäre von einem solchen Besuch enttäuscht gewesen. Nur ein Prozent der aus der Arbeitsgesellschaft Ausgestoßenen hat den Weg auf die Straße gefunden. Mit einer Fuhre Mist, die, wie nun geschehen, vor einem der Arbeitsämter abgeladen wird, ist es jedenfalls bestimmt nicht getan. Und bevor Arbeitslose in Deutschland – wie in Frankreich – damit beginnen, Arbeitsämter, Parteizentralen und Behörden zu besetzen, müßten sie eingeschliffene autoritative Gewohnheiten ändern.
Die Barrieren, die es verhindern, daß ein Massenprotest, der mehr als eine billige Parole wäre, in Gang kommt, sind mannigfach. Kaum jemand will sich als Arbeitsloser outen, vor den Augen der Nachbarn den Statusverlust sichtbar machen. Ein tief steckendes Schamgefühl ist die eine Seite. Die Tatsache, daß es keine Interessenvertretung der Erwerbslosen gibt, ist die andere. Die Gewerkschaften halten, starr, besitzstandswahrend und denkfaul, daran fest, daß ihre einzige Aufgabe darin bestehe, die Interessen der Arbeitsplatzbesitzer zu organisieren. Dabei müßte sich nach 25 Jahren struktureller Arbeitslosigkeit – Konjunktur her oder hin – auch bis ins letzte Provinznest herumgesprochen haben, daß fast jeder Arbeitsplatzbesitzer ein potentieller Arbeitsloser ist.
Dennoch könnte auch ohne deren Unterstützung so manches einfacher sein. Die Arbeitslosen, die so gerne über ihre Machtlosigkeit jammern, haben viel mehr Möglichkeiten, als sie in ihren kühnsten Träumen ahnen. Sie selbst personifizieren das zentrale gesellschaftliche Problem, millionenfach drücken sie die Lüge der Bonner Politik aus. Warum keine phantasievolle Großaktion? Die Kameras stehen bereit, die Mikrophone sind aufgestellt, und die Bleistifte der schreibenden Zunft sind gezückt. Alles scheint auf ein Signal zu warten. Doch kaum jemand glaubt daran, daß sich etwas ändern könnte. Wolfgang Kraushaar
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen