Jede Menge Nadeln im Heuhaufen

■ Die Gleichzeitigkeit des Ungleichen: Schätze aus dem Kupferstichkabinett der Bremer Kunsthalle dortselbst

220.000 Zeichnungen und Graphiken haben die Kunsthallen-Sammler in 175 Jahren zusammengerafft; das macht 1.200 Blätter pro Jahr oder im Schnitt 3,29 pro Tag, auch heute und morgen und übermorgen. Irgendwie ein schöner Ausgleich zu den großen Regenwaldflächen, die Tag für Tag dahinschwinden, und den diversen Tierarten, die jeder neue Sonnenaufgang nicht mehr begrüßen kann.

Eine kunterbunte Auswahl der schwarzweißen Kunst lugt seit der Kunsthalleneröffnung aus dezent-graublauer Wand hervor. Im Gegensatz zur epochenüberschreitenden, kommunikativen Hängung der ständigen Sammlung regiert hier die systematisch-bürokratische Ordnung nach Jahrhunderten und Entstehungsländern. Das ist nicht schlecht, denn die Bilder suchen sich bald selber ihre Austauschpartner. Der Bauerntrampel einer niederländischen Genrezeichnung stemmt die Hände feist in die verfettete Hüfte und lugt hinüber zu einer fragilen Degas-Tänzerin mit Wespentaile – klassensprengende Liebe gibts nicht nur auf der Titanic. Mythische Ruinen wechseln mit Strohhütten, Gesichter mit Landschaften – und bald entdeckt der Betrachter Gesichtslandschaften voller Falten-Täler, Hügel-Wangen und Seelen-Bewölkungen.

Aber schön von Anfang an, schließlich will die Kunstalle als durchinszeniertes Gesamtkunstwerk erobert werden. In der Haupthalle erklärt Howard Kanowitzs berühmtes Vernissagenbild mit vielen plappernden Mäulern und Sektkelchen aber ohne Bilder, ja ganz ohne Welt, wie wir uns Kunst keinesfalls nähern sollen. Thomas Struths Fotos von Ausstellungsflaneuren gestehen uns ein lockeres Turnschuhoutfit zu und darüber hinaus einen ebenso saloppen Blick. Und Cindy Sherman ermuntert zu identifikatorischem Eintauchen in altertümliche Bilderwelten. Aus Kabakovs Installation nehmen wir uns noch einen Satz mit auf die Bilderreise: „Hier gibt es, sagt man, eine winzige menschliche Figur. Sie zu finden ist wie eine Nadel im Heu suchen.“Die Flügel des Gesangs von Dukas Zauberlehrling (er trötet leise aus einem Fischinger-Filmklassiker) tragen uns schließlich in den Graphiktrakt zu C.D.Friedrich: Schlafender Knabe unter stark bruchgefährdetem Baumkrüppel. Davor eine blutdürstende Axt. Manchem Maler scheint bei kleinem Format der Mut zu deutlicher Metaphorik zu wachsen.

Adolph Menzel dagegen studiert nur schlicht eine Treppe. Hier in der Sonderausstellung zeigt er weder sein kristallüsternes, königliches Flötenkonzert noch sein schwefelfeuriges Eisenwalzwerk, sondern irgendetwas zwischen Lust und Last – eben einen Seitenaufgang des Dresdner Zwingers. Um das Irdische herum antikeln und mythologeln Feuerbach und Hans von Marées. Dazu scharfblickt Theodor Fontane – aber nur mit einem Auge, das andere hat Max Liebermann alt und müde werden lassen. Vier Arbeiten zwischen 1873 und 1896: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichen gab's eben lange vor der Postmoderne.

Inv. Nr. Kl 10034 ist eines der raren Beutekunststücke, die den Weg aus Rußland nach Bremen zurückgefunden haben. Echter Dürer! Seit 1980 ist also der mächtig-kräftige Leib Christi wieder bei uns über harten, felsigen Boden gegossen. Noch beeindruckender ist eine Jesusdarstellung von Guido Reni. Weil der Kopf oben auf dem Hals nicht mehr Platz hatte, muß er nun von der Seite aus, unter der Achsel hindurch, sich selbst beim Leiden zuschauen. Nur eines von vielen Beispielen für den Mehrwert des Unabgeschlossenen. Ein anderes ist eine Gewandstudie, bei der der Kopf zur Nebensache verkommt.

Besonders schön ist die Gegenüberstellung eines Originals mit seiner spiegelverkehrten Kopie. Dem Original ist ein Bäumchen durch den Zahn der Zeit hinweggenagt worden. 30 cm weiter dagegen sprießt es nach 300 Jahren immer noch freudig weiter. Dafür heißt es auf Abraham Bloemaerts Original poetisch: „Purpur laviert, weiß gehöht“. Purpur ist eben hinfällig.

Radikal nichts miteinander zu tun hat dagegen ein Picasso-Stierkampf, eine bunte Calder-Spielerei und ein Tapies-Informel. Dieser Berg an Disperaten nötigt geradezu zu einem Sehen jenseits von Kunstgeschiche, Erklärungstäfelchen, stilistischen Einordnungen. Wenn es dann endlich so weit ist, und man steht vor dem Bild an sich, dann beeindruckt in einer Reihe von Impressionistenstars ausgerechnet ein No-name: die himmelsnahe Felstektonik von einem gewissen Michallon. Dem gegenüber schrumpft manches zum Belegexemplar: Wir haben auch einen Bonnard, Vallotton, Manet ... Und unter den Klassikern der Moderne sticht ausgerechnet ein Kurt Kranz mit einer genialen Allegorie auf lust-qualvolle Einsamkeit hervor.

Am Ende der Ausstellung fühlt sich der Besucher so vielschichtig wie ein Blatt von Perino del Vaga, 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts. Drei Bilder sind da übereinandergelagert, eine Architekturstudie, eine irdische und eine himmlische Gesellschaft. Aber wo ist Kabakovs winziger Mensch, den man wie die Nadel im Heuhaufen suchen muß? Vielleicht die Besucherin, die ihre Nase ganz dicht an ein irrsinniges Oelze-Selbstbildnis drückt: Bohrende Augen stechen in bohrende Augen, beherztes Kinn reibt sich an beherztem Kinn. Eigentlich gibt's hier Menschliches wie Sand am Meer. bk

Bis 10. Mai in der Kunsthalle