■ Demokratie unter Druck (8): Es gibt keinen Niedergang der Demokratie, sondern viele Chancen in ungeheuer dynamischen Zeiten
: Mehr Mut zur Zuversicht!

Den Beiträgen zur Debatte „Demokratie unter Druck“ unterliegt eine ganz bestimmte Interpretation der Geschichte der Bundesrepublik. Sie ist in drei Kapitel gegliedert. Kapitel eins, das sind Westalliierte, Westbindung, Adenauer und Wirtschaftswunder – das Feld wird bestellt. Kapitel zwei: Rudi, Willy, „Mehr Demokratie wagen“, Anti-AKW-, Friedens-, Frauenbewegung, ziviler Ungehorsam – Leben zieht ein. Kapitel drei: Der drohende Niedergang. Die Handlung wechselt von West nach Ost, sie beginnt damit, daß im Herbst 1989 aus „Das Volk“ „Ein Volk“ wurde. Westler kolonisieren Ostler, der Westen verostet. Ferner Arbeitslose, Einwanderer, Feuerbomben, „national befreite Zonen“ – Demokratie unter Druck eben.

Dieses Narrativ von Aufstieg und – drohendem – Fall ist die derzeit gültige linke/linksliberale Normalerzählung der deutschen Nachkriegsgeschichte. Nun kann vernünftigerweise nicht bestritten werden, daß sich für die Diagnose demokratischer Gefährdung allerlei gute Argumente mobilisieren lassen. Gleichwohl ist diese Sichtweise so sehr auf den Niedergang abgestellt, daß sie die Möglichkeiten dieser ungeheuer dynamischen Zeit außer Acht läßt. Das dritte Kapitel unserer Erzählung könnte auch anders geschrieben werden.

Legen wir versuchsweise den Akzent nicht auf autoritäre Regressionsneigungen, nicht auf unser kaiserzeitliches Staatsangehörigkeitsrecht und die bisher keineswegs systemsprengende Massenarbeitslosigkeit. Erinnern wir statt dessen daran, daß die DDR dahingegangen ist unter tätiger Mithilfe ihrer Staatsbevölkerung. Blicken wir ferner auf den Umstand, daß sich in den neuen Bundesländern gegen allen völkischen Geist allmählich eine Infrastruktur der Zivilität herauszubilden beginnt – wie schwach und lückenhaft sie auch sein mag.

Nehmen wir ferner zur Kenntnis, daß der Nationalstaat in Europa aufgehört hat, im alten Sinne souverän zu sein, und daß die EU sich von einer intergouvernementalen Veranstaltung zu einem transnationalen Integrationsraum gewandelt hat. Polen, Ungarn, Tschechen stehen, wider alles Unken, nicht vor den verrammelten Toren der Festung Europa, sondern auf der Schwelle zur EU.

Und schließlich scheint sogar die unsägliche Fünf-Mark-der-Liter-Debatte zu kippen und auf einmal gegen den Populismus des Herrn Hintze und für die ökonomisch-ökologische Vernunft zu laufen. Wenn jenen Kräften bei Bündnis 90/Die Grünen, die unter allen Umständen nicht in die Pflicht genommen werden wollen, nicht noch ein großer Wurf gelingt, wird sich uns Wählern im Herbst die Chance bieten, zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine Regierung tatsächlich abzuwählen. Das allein ist es wert, daß man guten Mutes ist.

Die auf Verteidigung abgestellte Grundstimmung dieser „Demokratie unter Druck“-Debatte ist repräsentativ für den psycho-politischen Zustand des linken und linksliberalen Milieus. Da hinein paßt, daß Christian Semler auf dieser Seite den Grünen empfahl, jeder eventuellen Koalitionsverhandlung eine Essential-Liste voranzustellen – ein Mittel, das einem kontraktionalistischen, nicht einem deliberativen Politikstil zugehört und insofern ein veralteter Hut ist. Da hinein paßt auch, was Jürgen Gottschlich zu bedenken gab, daß nämlich in Ermangelung eines großen Reformprojekts, wie es die Ostpolitik und die Demokratiereform am Ausgang der 60er Jahre waren, die Risiken einer rot- grünen Regierung ihre Chancen überwögen, weshalb man sich die Regierungsbeteiligung sehr gut überlegen müsse. Keine Reformprojekte in diesen Zeiten? Man glaubt es kaum.

Arbeit an der Metapher: Interpretieren wir das Bild von der Demokratie unter Druck einmal anders. Nicht im mechanischen Sinne – allfällige Gefahren drücken schwer auf ein zerbrechliches Ding –, sondern sozusagen thermodynamisch: Die Demokratie hat überschüssige Energien und will heraus aus einem Gehäuse, das sie beengt: „Demokratie unter Druck“ als Demokratisierungsdruck. Einige Hinweise:

Erstens: Demokratische Inklusion durch Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Dabei handelt es sich nicht um eine Marginalie, die lediglich die Nachkommen der Arbeitsimmigranten beträfe, sondern um die Umstellung unseres Selbstverständnisses als Politik: Demos oder Ethnos. Dazu müßte freilich die unselige Verengung der Debatte auf das Detail der Doppelstaatsbürgerschaft durchbrochen und die große Alternative zwischen ethnischer Nation und „civic democracy“ thematisiert werden.

Zweitens: Demokratisierung der EU. Die Integrationsfortschritte der EU sind viel spektakulärer, als wir gemeinhin wahrnehmen. Durch die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes und deren Nachvollzug durch die nationalen Obersten Gerichte haben die einschlägigen Europa-Verträge de facto bereits Verfassungsrang erhalten. Das heißt nichts weniger als die Übertragung rechtsstaatlicher Prinzipien auf einen transnationalen Raum. Aber das große Defizit der EU liegt in der Demokratiefrage, zumindest wenn man sich mit einer elitenorientierten Demokratiekonzeption nicht zufriedengeben will. Denn nach wie vor ist der Rat, die wichtigste Legislativinstitution der EU, nur vermittelt über die nationalen Regierungen demokratisch legitimiert. Wieso nicht die Parlamentarisierung der EU und die Idee eines europäischen Bundesstaates ins Zentrum einer gar nicht so unkonkreten Utopie rücken?

Drittens: In aller Regel ist es nicht das politische System, das Demokratisierungsimpulse gibt, sondern die öffentliche Arena der Zivilgesellschaft. Die allerdings ist in Deutschland derzeit nicht sonderlich vital, was auch daran liegt, daß die grüne Partei nach wie vor zwischen Bewegungsvertretung und politischem System oszilliert. Einmal an der Regierung, wären die Verhältnisse klar: die Grünen gehörten dem Staat, nicht der Zivilgesellschaft an. Der simple Umstand, daß auch Rot-Grün nur eine ganz normale Regierung wäre, würde rasch bewirken, daß die Dialektik von zivilgesellschaftlich- oppositioneller und staatlicher Politik wieder angestoßen würde – wie einst im Mai: Nichts hat die Apo ab 1965 so befruchtet wie der Widerstand gegen jene Notstandsgesetze, die 1968 vom Interregnum der Großen Koalition verabschiedet wurden. Deren Vizekanzler hieß Brandt und ist heute der Säulenheilige jener Nostalgiker, die die alte Bundesrepublik verklären und in der Jetztzeit bloß die Gefährdung und den Verfall erkennen mögen. Dietmar Schirmer