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Blicke auf das grauenhafte Sein der Welt

Adorno und das Glück der Erhebung, das sich einstellt, wenn man den Verblendungszusammenhang durchschaut. Denken nach Aristoteles und Auschwitz. Theodor W. Adornos Vorlesungen über Probleme der Metaphysik und die Vorahnung des Terrorismus  ■ Von Niels Werber

Theodor Adorno ist zweifellos ein Klassiker. Im Suhrkamp Verlag erscheint nun schon der 14. Band allein seiner nachgelassenen Schriften. Was sich aber erst erweisen muß, ist, ob er auch gelesen werden wird. Diese Frage stellt sich freilich nur den Jüngeren, für die Adorno schon nicht mehr zum Pflichtprogramm des geisteswissenschaftlichen Studiums gehört hat. Im Sommer 1965, als Adorno in Frankfurt seine Vorlesungen über „Begriffe und Probleme der Metaphysik“ gehalten hat, wurde ich geboren; zwanzig Jahre später konnte, wer wollte, auch ohne Adorno studieren. Schwieriger wäre es gewesen, die Lektüre Foucaults oder Luhmanns, Derridas oder Habermas' zu umgehen. Nur in der Philosophie, die ihr Metier ja weitgehend als Arbeit an ihrer Autobiographie betreibt, haben Adornos Texte noch einen Stammplatz. Man muß also nicht, man kann ihn lesen: aber sollte man?

Die Antwort darf wohl für all diejenigen bejaht werden, die sich tatsächlich für Metaphysik interessieren. Adorno muß es verstanden haben, seine Zuhörer in den Bann zu ziehen, denn dem heutigen Leser ergeht es ähnlich. Dies liegt auch daran, daß der Stoff nicht einfach in Form von Begriffen und Definitionen heruntergerattert, sondern als interessante Geschichte inszeniert wird, deren Spannungsbögen die Problemstellungen und Lösungsversuche der Metaphysik bilden. Zwei Drittel seiner Vorlesung sind den begrifflichen Distinktionen der Metaphysik des Aristoteles gewidmet, deren weitere historische Laufbahn bis in dieses Jahrhundert weiterverfolgt wird. Das pädagogische Credo der Vorlesung ist, den Sinn für Unterschiede und Probleme zu schärfen, er präsentiert keine glattgeschliffene Version der Metaphysik, die als Schulweisheit auswendig zu lernen wäre. Vielmehr gilt es „zu zeigen, wo die Schwierigkeiten liegen, die unter der Plausibilität der Argumentationsreihen verborgen sind“.

Adorno berücksichtigt freundlicherweise, daß er „zu lebendigen Menschen spricht“, weshalb auf die in seinen Texten übliche Dichte verzichtet wird. Wer sich mit dem Denken des Aristoteles wie dem Adornos vertraut machen will, sei diese Vorlesung empfohlen. Aber warum man diese Vorlesungen als Thirtysomething auch dann lesen muß, wenn einen die Subtilitäten der Philosophiegeschichte kaltlassen, findet seinen Grund im letzten Drittel der Vorlesungen, wo viel über die Mentalität der Generation der Achtundsechziger zu erfahren ist.

Im Juli 1965, nach zwei Monaten Aristoteles, stellt Adorno die Frage nach einer „Metaphysik nach Auschwitz“. Wenn nun „solche Reflexionen zur Metaphysik“ anstehen, „wie sie mir heut und hier fällig und unumgänglich scheinen“, dann geht es um ihre vollständige Revision, die von der aktuellen Zeitgeschichte erzwungen wird. Denn die vom Nationalsozialismus eingerichtete „Welt der Tortur, die weitergeht nach Auschwitz und über deren Fortdauer wir ja aus Vietnam die entsetzlichsten Berichte empfangen“, läßt die Annahmen eines in sich sinnvollen Seins oder geordneten Kosmos nicht mehr zu. „Und wer weiter Metaphysik alten Stils betreibt, der zeigt sich dadurch als Unmensch.“ Der Philosophie bleibt heute nur noch die Aufgabe, die „reale Hölle“ des „gesellschaftlich produzierten Bösen“ zu durchdenken; das einzige „Glück“, was die Philosophie ihren Liebhabern noch versprechen kann, ist das „Glück der Erhebung“, das sich dann einstellt, wenn es gelingt, „den Zusammenhang der Verblendung zu durchschauen und damit auch zu durchbrechen“.

Dieses bittere Glück vermittelt Adorno seinen Studenten in einer Rhetorik, die suggestiver kaum sein kann. Er verheißt ein hochriskantes, einsames, elitäres Glück, während der Rest des ganzen „Betriebs“ völlig aufgeht im bloßen „Registrieren, Ordnen, Zusammenfassen von Fakten“, unbekümmert um die Erkenntnis der „Wahrheit“, nämlich des universalen „dämonischen Zusammenhangs“. Sozial manifestiert sich dies omnipräsente Reich des Bösen auf Erden als „Departmentalisierung“ der Gesellschaft im Dienste purer Zweckrationalität, psychisch als „Liquidation des Ichs“, sprachlich als „Jargon der Eigentlichkeit“. Auf allen Ebenen herrscht ein Identitätszwang, der den Individuen noch jedes „bißchen an Anderem“ austreibt und zugleich – das ist das Perfide – den „mit Gewalt gleichgemachten Menschen“ mit einer kulturindustriell produzierten Pseudoindividualität kunterbunt ausstaffiert. Kultur, die einst in der Antike den Menschen von der Auslieferung an ein blindes, Naturgottheiten geschuldetes Schicksal emanzipiert hat, „ist nun wirklich ganz und gar zur Ideologie geworden“. „Kultur“ in unserer Zeit, in der täglich geschieht, was geschieht, „ob das nun in Südafrika oder Vietnam sei“, fungiert nur als „Deckel über dem Unrat“, als schönes Geflecht von Lügen, das über eine Welt ausgebreitet wird, „die längst viel Schlimmeres kennt als den Tod und die etwa Menschen noch den Genickschuß verweigert, um sie langsam zu Tode quälen zu können“. Ohne diesen kunstvollen „Verblendungszusammenhang“, so darf angenommen werden, würden die gequälten und belogenen Subjekte wohl in den Selbstmord desertieren, da es „doch in einer Welt ohne Sinn eigentlich nicht sich leben ließe“.

Die westlichen Demokratien mit ihrer Gewaltenteilung, ihren Grund- und Menschenrechten sind Teil der Fassade. Es herrscht nur „formale Freiheit“, hinter der das ökonomische Prinzip der „absoluten Fungibilität und Ersetzbarkeit eines jeden Menschen“ sich eingerichtet hat. Die metaphysische Grunderfahrung der Liquidation des Ichs hat „so tiefe objektive Gründe, daß sie etwa auch durch politische Herrschaftsformen, also durch den Unterschied zwischen formaler Demokratie und totalitärer Herrschaft eigentlich gar nicht berührt wird. Wenn der einzelne „absolut gleichgültig geworden ist“, dann ist wohl auch egal, ob er seine Order von gewählten oder selbsternannten Autoritäten erhält. Wer zuerst die Folter befehle, Ost oder West, sei in den „postkolonialen Kriegen“ nur reiner Zufall. Wer hier Unterschiede macht, zeigt nur, daß er zur Kenntnis des eigentlichen Unheils noch gar nicht gelangt ist.

Wer die „Dialektik der Aufklärung“ kennt, wird nicht überrascht darüber sein, daß Auschwitz in der Geschichte der Menschheit nicht nur eine Epoche ist, ein Einschnitt, sondern zugleich das Resultat einer durch die Jahrtausende reichenden Entwicklung. Genau wie Horkheimer und Adorno schon im technischen Zwang, den Odysseus sich antat, um den Sirenen zu entkommen, denselben Zwang am Werke sehen, mit dem der im Faschismus völlig entfesselte Industriekapitalismus alle Natur, auch die im Subjekt, normiert, unterjocht und vernichtet, genauso entziffert Adorno hier Auschwitz als Konsequenz der abendländischen Metaphpysik. Denn das „Ich“, das die Metaphysik hervorgebracht hat, „ist bis ins Innerste verstrickt in den Schuldzusammenhang der Gesellschaft.“ Dem Subjekt, das im Idealismus noch als transzendentaler Schöpfer seiner Welt triumphiert, wird nun mit seiner Liquidierung „heimgezahlt“, was seine „Schuld“ gewesen ist: nämlich seine Unbekümmertheit um alles, was sich seinen Formeln entzieht. Nun wird es selbst jener „absoluten Integration“ unterworfen, deren äußerstes Instrument der „Völkermord“ sei.

Adorno hat sein Denken – nietzscheanisch – für riskant gehalten, weil es den Blick auf das grauenhafte Sein der Welt, wie sie ist, durch alle Schleier hindurch wirft und aushält. Im Rückblick scheint das Risiko dieses Denkens eher darin gelegen zu haben, Studenten auf den Terrorismus vorzubereiten. Nirgends konnte man es 1965 so deutlich hören wie in Frankfurt, daß der Faschismus in neuen Gewändern die Weltherrschaft anstrebt, daß die BRD von ihrer politischen Verfaßtheit über ihre Kultur bis zu den uniformen Straßenzügen der wiederaufgebauten Städte ein teuflisches System sei, das seine Bosheit hinter dem alltäglichen „Geblök“ vom Hohen und Edlen verstecke. Zu der Annahme, es könnte der Wahrheitsfindung dienen, diese Regime aus seinem Tarnzustand herauszubomben, um allen Menschen, die nicht bei Adorno hören konnten, einmal das Grauen hinter dem „Verblendungszusammenhang“ zu zeigen, fehlt nur ein kleiner Schritt.

Adorno mag diese Möglichkeit geahnt haben, denn er warnt seine Studenten vor der „Tat“. Denjenigen, die fragen, „muß man nichts dagegen tun?“, gibt Adorno „zu erwägen, ob nicht durch den Zwang, jetzt und hier etwas zu tun und durch das Moment der Fesselung des Gedankens, das darin liegt, der Gedanke genau dort stillgestellt wird, wo er weitergehen müßte“.

Die verständliche „Wut“ über diese Art von „konsequenzenloser Reflexion“ sei der Preis für „das Moment des Befreienden, das in einer solchen Reflexion liegt“. Daß auf alle „Anwendungen auf Praxis“ zu verzichten sei, haben die Studenten einige Jahre später negiert, um den hohen Preis einer nun konsequenzenreichen Wut. Wie sehr die Zeitläufe sich seitdem letztlich auch durch diese „Praxis“ der Achtundsechziger verändert haben, merkt man, wenn man Adornos Ausführungen zur „realen Hölle“ einer Gesellschaft folgt, die mit unserer nichts mehr zu tun zu haben scheint.

Theodor W. Adorno: „Metaphysik. Begriffe und Probleme: Nachgelassene Schriften. Band 14“. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1998, 320 Seiten, 68 DM

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