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Keine Erzählungen mehr

Handelsvertreter eines politischen Denkens. Jean-François Lyotard, der französische Philosoph und Konstrukteur der theoretischen Postmoderne, ist tot  ■ Von Fritz von Klinggräff

Man mag da Symbolik ins Spiel bringen: Just plant der Merkur, die „Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“, seine Doppelnummer zu „30 Jahre Postmoderne“ an. Nun stirbt seine Instanz in Person des französischen Philosophen, der mit seinen Büchlein „La condition postmoderne“ einen Begriff für mehr als eine Dekade zum Bestseller machte. Jean-François Lyotard hätte über soviel eingängige Symbolik sein leicht schiefes Grinsen aufgesetzt: Schön, daß auch die Postmoderne historisch werden kann – vielleicht verliert sie – nun – nach ihrem Ende auch ihr krummes Image als eine historische Epoche.

Denn so sehr Lyotard in seiner ganzen Person für den Paradigmenwechsel Moderne–Postmoderne einstand: er war selber viel zu sehr ein Wanderer zwischen den Begriffen, als daß ihm der Aufenthalt im fixierten Zeit-Raum Freude bereitet hätte. Dem widerspricht nicht, daß sein Denken einen Ursprungsort hatte. In Frankreich natürlich – im sozialen Raum der khagnes, der Eliteschüler vom Pariser Louis-le-Grand. Das kollektiviert seit Jahrhunderten Frankreichs Denken und produzierte in den französischen Jahren des Kriegsschauplatzwechsels – vom fremden Krieg gegen Nazideutschland zum eigenen gegen Algerien, vom fremden Verbrechen zum eigenen – eine Generation skeptischer Denker, die sich in der Abkehr von einer philosophie engagé dem Denken der Widersprüche verschrieb.

Diesem Denken verpflichtet schrieb Lyotard in den 80er Jahren – nach der politischen Bombe „Das postmoderne Wissens“ – ein politisches Buch. „Le Différend“ nannte er es – ins Deutsche wurde es intelligent mit „Der Widerstreit“ übersetzt. Keine politische Theorie, sondern politische Philosophie, also eine Ethik: die Frage nach dem Handeln-Können mit dem Zeitalter totalitärer Gewißheiten im Rücken. Lyotard nannte den „Widerstreit“ „mein philosophisches Buch“ und schrieb über die Nazizeit, über Heidegger, über die Französische Revolution, über Kant.

Es waren dieser Mut zum historisch Konkreten, vor allem aber die Wanderungen zwischen den Disziplinen, die Lyotard zum Handelsvertreter des französischen Denkens werden ließen. Man schimpfte ihn deswegen als den traditionellsten Philosophen des Poststrukturalismus; er selber hat auch das mit seinem zurückhaltenen Lächeln unter der gewaltigen Rabennase akzeptiert. Und zettelte damit Diskussionen an, die Philosophie in die Öffentlichkeit trugen. Grandios die Ausstellung „Les Immatériaux“ im „Beaubourg“, wo das Volk von Paris in Massen hinströmte, um sich sinnlich und philososphisch ins Unsinnliche einführen zu lassen: ins Informationszeitalter. Gleichzeitig sickerte seine Botschaft vom Ende der „großen Erzählungen“ – der Ideologien und Metadiskurse – im Zeitalter der Bits und Bytes in die Verwaltungen: Sein Gutachten für die Regierung von Quebec – „Das postmoderne Wissen“ – wurde zum Manifest einer Philosophie, die sich dem Manifesten zu verweigern trachtet. Im Gegensatz zu seinem Kollegen Jacques Derrida aber war Lyotard schon von Beginn an dem Politischen verschrieben. Wo dieser sich in seinen Texten immer wieder dem Aufklärungsgestus mit Wortspielen entzieht, blieb Lyotard dem Rhetorischen auch in seinen plakativen Formen verhaftet. Ein Skeptiker, der auch der Ironie noch die lange Nase zeigte. Wenn schon keine großen Erzählungen mehr, dann zumindest kleine. Nicht das Unbedingte der „anderen“ Schreibweise, sondern der Wechsel der Gattungen und der Stile. Darin war er mehr „Franzose“ vielleicht als in seiner Zuordnung zur renommiertesten Denkschule in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In einem Interview mit der taz zum Jahrestag der Französischen Revolution sah Lyotard hier das Signum eines „Volkes“, das seit zweihundert Jahren auf der Suche nach sich selbst, seiner „Legitimität“ ist: „Durch das Abschneiden des Kopfes des wackeren Louis XVI.“, so der Philosoph, habe sich das französische Volk mit einem mutigen und irren Handstreich ohnegleichen seine Legitimität genommen – und weltweit die Moderne eingeläutet: „Frankreich ist das einzige Land, das das Verbrechen vollständig vollbracht hat, das einzige Land in Europa, das tatsächlich den Sohn Gottes guillotiniert hat.“ Seitdem sei es auf der Suche. Mit Hilfskonstruktionen wie dem „Höchsten Wesen“ Robespierres oder mit philososphischen Konstrukten wie der „Volonté Générale“, seinem Allgemeinen Willen: „Ich glaube, Frankreich hat seine Verfassungen zehn- bis fünfzehnmal gewechselt, das ist enorm. Die Bedeutung der Französischen Revolution besteht meines Erachtens also darin, daß sie etwas eröffnet oder entdeckt hat, was der Moderne durchaus wesenhaft ist: daß die Legitimität und die Autorität immer aufs neue in Frage gestellt ist und als Frage gestellt werden muß. Es gibt keine Antwort auf die Frage nach der Legitimität. Das ist die wahre Demokratie.“ Es gibt keine Bewahrung im Wahren. Lyotard hat dieses Dogma gelebt.

Seine Abwendung vom Marxismus Mitte der 60er Jahre war nicht zuletzt eine Abwendung von einer eindimensionalen Sicht auf die Befreiungsbewegung in Algerien. Seinen Bruch mit den alten Kumpanen in der Zeitschrift Pouvoir ouvrire machte er mit einem ungeheuren Werk, das an der Grenze zum Wahnsinn stand: die „Economie libidinale“, ein durch und durch verzweifeltes Buch, mit dem er einen aussichtslosen Versuch machte, sich in die Rhizom-Theorie seines Freundes Deleuze hineinzuschreiben. Die Verzweiflung kultivierte er und wurde zum ausgewiesenen Schreiber des Antitotalitären. Mit einer Konsequenz jedoch, die die deutschen Totalitarismustheoretiker schaudern macht. Einer, der auch die Menschenrechte nur noch pragmatisch fassen kann, wie er in dem zitierten Interview zeigt: „Die Menschenrechte für sich selbst stellen kein Prinzip der Legitimität dar. Auf die Menschenrechte kann keine Autorität gebaut werden. Ich sehe in den Menschenrechten vielmehr eine Grenze, die nicht überschritten werden darf und die eine Widerstandsgrenze angibt. Sie sind ein Minimum, das von jeder Macht respektiert werden muß, ohne die Macht aber begründen zu können. Sie geben keinen Stoff für Parteiprogramme ab und damit weder für Zukunftsperspektiven noch Vergangenheitsbewältigung.“ Die Menschenrechte als „Le Différend“ – fast ein Nichts, aber das Resultat eines Lebens. Gestern starb Lyotard mit 73 Jahren.

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