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Künstlerkolonie wird Einheit

Auch eine 0:1-Niederlage gegen Deutschland ändert nichts daran, daß Nigerias Trainer Bora Milutinovic erstmals ein Team betreut, das Weltmeister werden kann  ■ Aus Köln Matti Lieske

„Jetzt kann niemand mehr Brasilien aufhalten“, hieß es markig in Werbespots, die nach dem WM- Gewinn von 1970 über die brasilianischen Bildschirme flimmerten, und der Junta-Chef General Médici ließ sich glückstrahlend mit Pelé ablichten. In Argentinien mußten Menottis WM-Helden nach dem Gewinn des Titels 1978 im eigenen Land für die Propaganda des Militärdiktators Videla herhalten, und sie sorgten dafür, daß den Menschen in aller Welt zum Begriff Argentinien für einige Zeit nicht zuerst Folter, Mord und Unterdrückung einfielen, sondern die Namen Luque und Kempes. Man darf sich schon einmal an den Gedanken gewöhnen: es ist gut möglich, daß die Weltmeisterschaft 1998 wieder von einem Land gewonnen wird, das von einer Militärdiktatur beherrscht ist. Immerhin kann Nigerias Machthaber Sani Abacha dann seinen Triumph nicht, wie etwa sein Blutsbruder im Geiste, Jorge Videla, im Stadion auskosten: die französische Regierung verwehrt ihm die Einreise.

Im übrigen ist man sich in Argentinien bis heute nicht einig, ob der WM-Sieg des linken Trainers Cesar Luis Menotti, der aus seiner Abneigung gegen die Generäle nie einen Hehl machte, die Militärregierung tatsächlich stabilisierte oder nicht eher schwächte, zumal die Siegesfeiern in den Straßen der argentinischen Städte häufig subversive Untertöne hatten. Wie dem auch sei, Bora Milutinovic, neuer Coach der nigerianischen Mannschaft, ist kein Menotti und hütet sich, irgendwelche Bemerkungen zur politischen Situation in Nigeria zu machen. Statt dessen insistiert er auf dem Unterschied von Sport und Politik, so wie es auch seine Spieler durchweg tun.

Der polyglotte Milutinovic ist ein überaus freundlicher Mann, der die Leute gern fragt, was sie trinken möchten, und breit lächelnd zu erzählen pflegt, daß er aller finanziellen Sorgen ledig ist, seit er vor vielen Jahren eine mexikanische Millionärstochter ehelichte. Trotzdem verdient er sich ein ordentliches Taschengeld hinzu, vorzugsweise dadurch, daß er mit minderbemittelten Fußball-Teams kleine Wunderdinge bei Weltmeisterschaften vollbringt. Boras Mannschaften strotzen vor Selbstbewußtsein und sind taktisch stets optimal auf den Gegner eingestellt. Sein US-Team spielte 1994 in Palo Alto gegen den späteren Weltmeister Brasilien genauso, wie man spielen mußte, um Romario und Konsorten zu ärgern, und die Südamerikaner waren hinterher froh, mit einem mageren 1:0 das Viertelfinale erreicht zu haben. 1986 schieden Milutinovic' Mexikaner im Viertelfinale von Monterrey gegen Deutschland völlig unverdient im Elfmeterschießen aus, 1990 warf er mit Costa Rica Schweden und Schottland aus dem Turnier und erreichte das Achtelfinale gegen die ČSSR. Wenn er von diesen Kunststückchen aus der Vergangenheit erzählt, blitzt sein Burt- Lancaster-Lächeln, und es wird noch strahlender, wenn er über sein derzeitiges Team spricht. „Diesmal wollen wir natürlich viel weiter kommen“, verkündet er stolz. Erstmals betreut Milutinovic ein Team, welches das Zeug hat, Weltmeister zu werden. Auf der anderen Seite hat Nigeria erstmals einen Trainer, der in der Lage sein könnte, das Optimale aus der von fußballerischen Genies wimmelnden Mannschaft herauszuholen.

Viel Zeit hat er nicht. Anders als im Falle Mexiko und USA, die er über Jahre trainierte, hat er bei Nigeria nur wenige Wochen, um aus einer Art lockerer Künstlerkolonie eine entschlossene Einheit zu formen, die sich über ein langes Turnier hinweg keinen Aussetzer leistet. „Es gibt viel Arbeit zu tun“, sagt Milutinovic, „vor allem im mentalen Bereich.“

Beim 0:1 gegen Deutschland in Köln zeigten die Nigerianer alles, was sie schon 1994 in den USA auszeichnete – Technik, Kreativität, Schnelligkeit, bezaubernde Tricks – aber auch alles, was ihnen damals zum Verhängnis wurde. Gegen Argentinien verloren sie, weil sie allesamt noch über einen Freistoß lamentierten, während ihn Maradona schon ausführte. Gegen Italien schieden sie aus, weil sie im Bewußtsein des fast sicheren Sieges und ihrer fußballerischen Überlegenheit die Defensive vernachlässigten und Katz und Maus mit dem Gegner spielen wollten. „Sie sind nicht ganz so praktisch, nicht ganz so konkret“, analysierte Oliver Bierhoff nach dem deutschen Sieg trefflich den Gegner. Wunderschönen Kombinationen, vor allem von den überragenden Finidi George und Nwankwo Kanu initiiert, fehlt oft der konzentrierte Abschluß, und leichtfertige Ballverluste im Mittelfeld ermöglichen gefährliche Konter gegen eine nicht immer souveräne Abwehr, in der besonders die Außenverteidiger nicht gerade die Zweikampfstärksten sind.

Bora Milutinovic, der am Mittwoch das erste Spiel seiner Mannschaft sah, wird diese Dinge bis zum WM-Turnier korrigieren. Schon in Köln beorderte er häufig Akteure an die Seitenline und erläuterte ihnen mittels seines berühmten kleinen Täfelchens, was sie zu tun und zu lassen hätten. Kanu, der Herzoperierte, mußte trotz offenkundiger Müdigkeit sein erstes vollständiges Match seit zwei Jahren spielen und übernahm im Laufe der Partie zunehmend die Regisseursrolle von Okocha. Trotz der Niederlage war Milutinovic am Ende „sehr glücklich“, nicht nur über die beeindruckende Vorstellung von Kanu, sondern über sein ganzes Team. Kein Wunder – wer es sich leisten kann, absolute Top-Stürmer wie Babangida (Ajax Amsterdam,), Ikpeba (AS Monaco) oder den etwas unglücklich auftretenden Akpoborie (VfB Stuttgart) erst in der zweiten Halbzeit zu bringen, kann beruhigt in die Zukunft sehen. „Ich habe eine Mannschaft, die eine großartige WM spielen kann“, faßte der Coach seine ersten Eindrücke zusammen, und dann wurde er doch noch leicht politisch. „Ich danke den Leuten in Deutschland“, sprach Milutinovic, „daß sie dieses Spiel ermöglicht haben.“

Nigeria: Shorounma (46. Willy Okpara) – Patrick, Okechukwu, West, Ajide (46. Godwin Okpara) – George (70. Babangida), Oliseh, Okocha, Adepoju (73. Akpoborie) – Kanu, Amokachi (46. Ikpeba)

Zuschauer: 40.000 (ausverkauft)

Tor: 1:0 Möller (58.)

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