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Enttäuschung allerorten

■ Der Sammelband „Öde Orte“ in Deutschland beweist: Heimat ist oft da, wo es häßlich ist

Wer schon einmal in einem ICE stand – denn sitzen kann man in einem ICE eher selten –, kennt gewiß jene Landkarten auf Höhe der Zugtüren. Gelangweilt verfolgt man alsbald die Strecke, die der Zug noch zurücklegen müßte, und stolpert schließlich über die Hunderte von Orten, aus denen sich unser Land zusammenzusetzen scheint. Was es nicht alles so gibt!

Wer an solchen Fingerübungen ein bißchen Spaß hat, dem sei der Band „Öde Orte – Ausgesuchte Stadtkritiken von Aachen bis Zwickau“ empfohlen. Die von Jürgen Roth und Rayk Wieland eingeladenen Autoren haben sich dabei ganze Mühe gegeben, ihrer Abscheu, ihrer Verachtung, zuweilen auch ihrer Verzweiflung freien Lauf zu lassen. Titel wie „Frankfurt ist Bielefeld am Main“ oder „Bremen sehen und dann weiterfahren“ verraten denn auch, daß für Milde kein Platz bleibt.

Hamburg in drei Sätzen abgekanzelt

Vorwiegend literarisch, zuweilen mit kurzen Ausflügen ins Journalistische zieht man statt dessen eine jeweils bittere Bilanz. Frank Schäfer enthüllt die Blockwartmentalität schon der Braunschweiger Schulkinder. Joachim Frisch kann zur Rettung Kaiserlauterns wenigstens anführen, daß jede Menge RAFler dort im Knast saßen. Harry Rowohlt kanzelt Hamburg in drei Sätzen ab. Ein Breitbandantibiotikum gegen provinzielle Enge, die Besonderheit vortäuscht; gegen großstädtische Überheblichkeit, die nur notdürftig Beschränktheit verbirgt.

Zärtliche Aufsätze mit etwas Zynismus

Und so könnten wir in unseren Jackentaschen nach einem schwarzen Edding angeln und mit beschwingter Hand all jene öden Orte umkringeln, vor denen hier so eindringlich gewarnt wird. Tatsächlich?

Etwas jedoch irritiert an dieser Versammlung entlarvter Scheußlichkeiten mittels der Rubriken Städtebauliches, Heimatkundliches oder Dylan-Imitatoren. Es sind die hingebungsvollen Schilderungen, die liebevoll ausgeschmückten Details aus diesen vorgeblichen Orten deutscher Ödnis, und nicht zuletzt der hohe Energieaufwand, der getrieben wurde, um Celle oder Nürnberg, Bamberg oder Wuppertal in Grund und Boden zu schreiben. Man lese nur den mit zärtlichem Zynismus vorgetragenen Besinnungsaufsatz von Peter Köhler über Göttingen. Oder man verfolge die mit fulminantem Haß getränkten Beschreibungen von Knud Kohr über Otterndorf/Elbe, einen von Amateurgermanen heimgesuchten Kurort. Augenblicklich möchte man aufspringen und selbst nachschauen, was das für Leute sind, die da leben.

Eine Erklärung für diesen seltsamen Zwiespalt wird von den Autoren gleich mitgeliefert. Nicht wenige von ihnen outen die von ihnen hingerichtete Stadt als ihren Geburtsort. Andere wieder behaupten, sie seien nur der Liebe wegen dort gelandet. Und so offenbaren sich hinter Hohn und Spott verletzte Gefühle, ähnlich einer verflossenen Liebschaft gegenüber, die man in Begleitung eines widerwärtigen Menschen trifft.

Dabei verlangen die Autoren nicht viel. Nur, daß man in der Stadt, in der man gerade lebt, kurz vor die Tür treten kann und sich nicht so ganz unwohl fühlt. Frank Keil

Jürgen Roth/Rayk Wieland (Hg.): „Öde Orte“, Reclam, Leipzig 1998, 252 Seiten, 19 DM

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