■ Am 1. Mai ist der britische Premierminister Tony Blair ein Jahr im Amt, und New Labour sitzt fester und geeinter im Sattel denn je: Die Hinwendung zum Staat
Es ist nicht zu fassen. Ein Jahr nach seinem fulminanten Wahlsieg steht der britische Premierminister Tony Blair in den Umfragen noch höher als damals, seine Partei ist noch geeinter, die Opposition noch unsichtbarer, und mögliche Stolpersteine erscheinen noch winziger. Noch vor einem Jahr hätte niemand prophezeit, daß diese Entwicklung so rasch und geräuschlos eintreten würde. Margaret Thatcher brauchte immerhin vier Jahre und einen Krieg, um Unanfechtbarkeit zu erringen. Tony Blair brauchte vier Monate und einen Todesfall. Bis heute gilt sein präsidiales Verhalten nach dem Tod der Prinzessin Diana als sein stärkster Moment.
Inzwischen steht die Regierung insgesamt so unangreifbar da, als umgebe sie Blairs Heiligenschein im Kollektiv. Dieser Effekt entsteht nicht dadurch, daß der Premierminister alles an sich zieht, sondern durch das Gegenteil. Die Labour-Minister fechten politische Gratwanderungen weitgehend alleine aus und müssen sich darin bewähren. Für die Kürzung der Sozialhilfe für alleinstehende Mütter zog Sozialministerin Harriet Harman im Dezember den Zorn der Nation auf sich, obwohl sie sich das ja wirklich nicht alleine ausgedacht hatte. Nun kehrt statt dessen jeder vor der eigenen Tür. Das läßt Zwietracht gar nicht erst aufkommen. Es bleibt keine Angriffsfläche mehr.
Die Blair-Regierung ist ein Monolith, viel mächtiger, als sie es sich je zu Oppositionszeiten erträumt hätte. Sie hat es nicht einmal mehr wie früher nötig, große Ideen zu erfinden. Leere Schlagworte und Getöse über das Jahr 2000 umgeben zwar immer noch jede politische Initiative, wobei das Präfix People das New aus den Anfangszeiten weitgehend abgelöst hat. Von Partnerschaft ist die Rede, von Nachhaltigkeit, von Integration. Aber dahinter steckt keine Programmatik. Die große Wohlfahrtsreform, der linke Kritiker noch vor einem halben Jahr mit dem hoffnungsvollen Schlachtruf „Labour's Vietnam“ entgegenfieberten, erschöpft sich in arbeitsmarktpolitischer Kleinarbeit, die rechtzeitig vor der nächsten Rezession die letzten Langzeitarbeitslosen von der Straße holen soll. Die moraltriefende Jugend- und Bildungspolitik, in der zeitweise die ganze britische Gesellschaft von der Wiege an neu erfunden werden sollte, erweist sich in der Praxis einfach als Willen zur besseren Zusammenarbeit staatlicher Behörden.
Die Atemlosigkeit und der Eifer der Oppositionszeit ist im Regierungsalltag verschwunden. Man habe nur noch „tausend Tage, um das Land auf tausend Jahre vorzubereiten“, drängelte Tony Blair 1996 auf seinem Wahlparteitag. Heute spekulieren manche schon auf über zwanzig Jahre New Labour. Für Labour, anders als für die Konservativen, ist das eine neue Erfahrung. Noch nie hat Labour länger als sechs Jahre hintereinander an der Macht überlebt, während die Tories bisher im Staat auch dann zu Hause schienen, wenn sie mal eine kurze Verschnaufpause einlegten.
Die Umkehrung dieser Situation bleibt nicht folgenlos. Beim Beginn von New Labour waren insofern noch die Old-Labour-Wurzeln sichtbar, als es weiter um die Behebung sozialer Mißstände ging – nur eben mit neuen Konzepten. Labour als Regierungspartei von Dauer dagegen emanzipiert sich immer weiter von den gesellschaftlichen Milieus, die Labour als Oppositionskraft beflügelten. Mit der Aussicht, bis zum Rentenalter weiterregieren zu können, wenden sich die Labour-Minister vom Verändern der Gesellschaft ab und dem Verändern des Staates zu.
Die Themen, mit denen sich die Regierung Blair ein Jahr nach ihrer Machtergreifung beschäftigt, lauten Dezentralisierung und Verfassungsreform. Die autonomen Parlamente für Schottland und Wales sind bereits beschlossen; für London und Nordirland folgen die entsprechenden Volksabstimmungen im Laufe des Monats Mai. Mit führenden Liberalen sind Gespräche über eine Reform des Wahlrechts im Gange; sollte das bestehende Mehrheitswahlrecht auch nur zu Teilen durch das Verhältniswahlrecht ersetzt werden, hätte das den unumkehrbaren Abschied vom althergebrachten Zweiparteiensystem zur Folge. Das Oberhaus, eine wegen seiner Entfernung von der Parteipolitik und seiner fruchtbaren Mischung von Adelstiteln und Verdiensternennungen liebenswerte Versammlung von Exzentrikern, Fachleuten und Elder Statesmen, soll ebenfalls reformiert werden, wenn die Regierung auch noch nicht weiß, wie. In der Kommunalpolitik überlegt die Regierung, den gewählten Gemeinderäten ungewählte Wirtschaftsvertreter an die Seite zu stellen. Neben den demokratischen Institutionen überholt die Regierung auch den Staatsapparat, wenngleich mit fragwürdigeren Methoden: Lag bisher die exekutive Macht im politischen Alltag weitgehend bei unpolitischen Berufsbeamten, setzt New Labour massenhaft auf Privatisierung und auf parteipolitische Sonderberater und Medienexperten.
Die Summe all dieser Schritte kommt einer politischen Revolution gleich. Aber anders als bei der gesellschaftlichen Programmatik von New Labour steckt dahinter kein einheitliches Konzept. Jede Facette dieser monströsen Verfassungsrevision, deren Ausmaß noch längst nicht in das Bewußtsein der meisten britischen Politiker vorgedrungen ist, ist eine Einzellösung eines Einzelproblems. Zu nennen sei hier die Suche nach Frieden in Nordirland oder die Sitzverteilung im Unterhaus, die den Wählerwillen verzerrt.
Vielleicht ist das gut so. Der Versuch, von oben herab ausgeklügelte Konzepte zu verwirklichen, ist in Großbritannien meistens fatal. Die britische Geschichte zeigt, daß grundlegender Wandel in der britischen Gesellschaft in den letzten Jahrhunderten nie direkt vom Staat erwirkt wurde, sondern immer erst als Spätfolge von Veränderungen der politischen Institutionen eintritt.
1999 wird für Tony Blair ein Schlüsseljahr. Hier müssen nicht nur die Pläne zur Oberhaus- und Kommunalreform finalisiert werden, sondern es finden auch die Autonomiewahlen in Schottland, Wales und London statt und dazu die Europawahlen mit einem neuen Wahlrecht. Nach diesem Jahr wird die politische Landschaft Großbritanniens nicht mehr wiederzuerkennen sein.
Diese Herausforderungen sind voller Risiken. Aber Tony Blairs erstes Jahr an der Macht gibt keinen Anlaß zum Zweifel daran, daß die Labour-Regierung sie meistert. Zum ersten Mal hat Labour die Geduld, sich um langfristige Erfolge zu bemühen, die sich nicht unmittelbar in Wählerstimmen niederschlagen. Dominic Johnson
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