: Schatzsuche in den Ozeanen
Medikamente aus dem Meer: ein in Deutschland bisher vernachlässigtes Forschungsgebiet. Ein neues Forschungsprogramm soll jetzt Meeresbiologen und Pharmaindustrie zusammenbringen ■ Von Joachim Wrage
Die heilenden Kräfte der Pflanzen kennen die Menschen schon seit Urzeiten. Ob Kamillentee gegen Bauchschmerzen oder Eukalyptus gegen Erkältung – Kräuter, Sträucher und Bäume liefern Wirkstoffe gegen viele Leiden. Seit Jahren durchforstet die pharmazeutische Industrie daher Wälder und Wiesen auf der Suche nach neuen Medikamenten. Ebenso lohnend wäre die Suche nach Heilmitteln im Meer. Die in den Ozeanen lebenden Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen bilden eine Vielzahl chemischer Stoffe, von denen die wenigsten bisher bekannt sind. Anlaß zu Hoffnung also, daß sich auch medizinisch wirksame Stoffe darunter befinden.
Bisher beschäftigen sich jedoch nur wenige mit diesem Gebiet. Und zu den Schlußlichtern zählen die deutschen Forschergruppen. Um hier Abhilfe zu schaffen, startet das Bundesforschungsministerium (BMBF) in diesem Jahr erstmals ein Programm unter dem Titel „Marine Naturstofforschung“. Unter anderem geht es auch darum, neue pharmazeutische Wirkstoffe im Meer zu finden. Dreißig Anträge auf Förderung ihrer Vorhaben haben die MeeresforscherInnen gestellt.
In den USA und Australien gibt es schon seit Jahren Großprojekte zur Erforschung von Wirkstoffen aus Meeresorganismen. Bereits im Jahre 1969 beschrieben US-Wissenschaftler die krebshemmende Aktivität von Stoffen aus dem Moostierchen Bugula neretina. Seitdem wurden insgesamt 200 Patente über Naturstoffe aus dem Meer angemeldet. Davon allein 120 in den USA, weitere 50 in Japan.
Der deutsche Forschungsminister kommt mit seinem Programm zur marinen Naturstofforschung sehr spät. Ulrich Schlüter, Leiter des Referats Meeres-, Polarforschung, Geowissenschaften und Meerestechnik im BMBF stimmt dieser Einschätzung zu und fügt an: „Die deutsche Meeresforschung hat sich bisher mehr mit sich selbst beschäftigt.“ Als Folge davon seien kaum Verbindungen von MeeresforscherInnen zur Naturstoffforschung und Industrie vorhanden.
Warum sind marine Naturstoffe überhaupt vielversprechend für die Entwicklung von Medikamenten? Zwei grundsätzliche Vorzüge dieser Substanzen gegenüber Naturstoffen aus Landpflanzen erläutert der Chemieprofessor Ekkehard Winterfeldt von der Universität Hannover: „Wenn sich im Meer ein Organismus chemisch gegen andere wehrt, dann müssen die Stoffe wasserlöslich und stark wirksam sein.“ Sobald die Substanzen im Wasser sind, verdünnt sie ein Ozean und schwächt ihre Wirkung ab.
Wasserlöslichkeit und hohe Aktivität sind jedoch gerade für Medikamente bevorzugte Eigenschaften. Der menschliche Körper kann wasserlösliche Arzneien besser aufnehmen. Eine hohe Aktivität ermöglicht eine niedrige Dosierung, so daß der Körper mit den Ausscheidungs- und Abbauprozessen weniger belastet wird. Die Lebewesen im Meer bilden laut Winterfeldt sehr effektive Stoffe. „Sie haben zwei Milliarden Jahre geübt.“ Lange bevor in der Erdgeschichte die Lebewesen an Land kamen, bevölkerten sie das Meer. Sie hatten viel Zeit, chemische Abwehrstoffe zu entwickeln – und zu optimieren.
Im Gegensatz zu den bisher auf dem Land gewonnenen Arzneien spielen bei den Naturstoffen aus dem Meer Tiere eine große Rolle. Beispielsweise leben im Pazifik Seescheiden, die eine antivirale Substanz produzieren. Seescheiden sind kleine, sackförmige Tiere ohne Augen, die am Meeresgrund festsitzen und Wasser einsaugen, ihre Nahrung herausfiltern und das Wasser wieder auspumpen. Die Seescheide verhindert mit ihrem antiviralen Wirkstoff, daß Seepocken oder Moostierchen auf ihr wachsen. Das Mittel schützt ihre Ein- und Ausströmöffnungen vor dem Bewuchs – und damit vor dem Verstopfen. Das National Cancer Institute in den USA untersucht derzeit, ob der Stoff als Anti-Virenmittel einsetzbar ist.
In den gleichen Tieren kommen auch sogenannte Staurosporine vor. Das ist eine Gruppe chemisch ähnlicher Substanzen, die eine krebshemmende Wirkung besitzen. „Die Staurosporine greifen in die Signalübertragung der Zellen ein“, erklärt Peter Proksch, Professor für Pharmazeutische Biologie an der Uni Würzburg, „bei Krebszellen ist diese Signalübermittlung jedoch gestört, und sie teilen sich unkontrolliert.“ Die Staurosporine könnten hier eingesetzt werden und den Krebs bekämpfen, ohne daß es wie bei vielen anderen Antikrebsmitteln zu einer Schädigung der gesunden Zellen komme.
Eigentlich produzieren die Seescheiden Staurosporine, um sich vor räuberischen Fischen zu schützen. Doch sogar bei wirksamen Giften gibt es andere Tiere, die als Trittbrettfahrer das aktive Gift nutzen – und selbst dagegen resistent sind. So auch bei der Seescheide. Sie ist Hauptnahrungsmittel bestimmter Plattwürmer, die wiederum das Gift ihres Opfers nutzen, um hungrige Fische abzuwehren.
Nutzbare Naturstoffe werden aber nicht nur bei Tieren aus fernen Meeren entdeckt. So untersucht Laszlo Bress, Professor für Meereschemie vom Toxikologie-Institut am Klinikum Kiel, das Gift der Wachsrose. Die gelbbraune bis grüne Anemone mit violetten Tentakelspitzen lebt in Nord- und Ostsee. Ihr Gift eignet sich jedoch nicht zur Herstellung von Medikamenten. Es kann bei der Erforschung von Prozessen an Nervenzellen als Instrument eingesetzt werden. Aber die heimischen Meere bieten auch Medikamente. Jeder Helgoland-Besucher kennt den braunen Blasentang. Aus dieser Großalge isoliert Bress eine Substanz, die bei Thrombosen helfen könnte – sie beeinflußt die Blutgerinnung.
Laut Ulrich Schlüter vom BMBF soll die Meeresforschung Hinweise geben, wo potentielle Arzneistoffe zu finden sind. Dahinter verbergen sich verschiedene Forschungsaufgaben: Unter welchen Umweltbedingungen werden welche Substanzen gebildet, oder welche Tierart vertreibt mit chemischen Mitteln eine andere? Die Beobachtung von Lebensweisen soll also Anhaltspunkte liefern, wo sich die Suche nach brauchbaren Stoffen lohnt.
Proksch erläutert das an einem Beispiel: Auf einem Quadratmeter Riffoberfläche beißen Fische bis zu 100.000mal zu. Bei den festsitzenden Tieren am Riff, die diese Angriffe unbeschadet überstehen, sei die Chance groß, pharmakologisch wirksame Stoffe zu finden. „Alles zu untersuchen ist schließlich unmöglich“, sagt der Biologe, „aber durch Beobachtung läßt sich das Spektrum sinnvoll einschränken.“
Bis jetzt sind die großen deutschen Pharmafirmen noch nicht an der Entwicklung von Medikamenten aus dem Meer beteiligt. So soll das BMBF-Programm nicht nur die Aktivitäten der WissenschaftlerInnen bündeln, sondern auch Kontakte zur Industrie schaffen.
Die Aufgabenverteilung zwischen Forschung und Industrie wird nicht einfach sein. Schließlich wollen die Forscher nicht nur Lieferanten für die pharmazeutische Industrie sein, sondern vor allem Wissenschaft betreiben. Entscheidend wird es daher sein, ein Gleichgewicht zwischen Wissenschaft und Industrie zu finden.
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