: Hempelmann und Lullemänner
Willi Lippens als Trainer und ein Präsident aus den Reihen der SPD sollen den kurz vor Abstieg und Konkurs stehenden Traditionsklub Rot-Weiß Essen doch noch retten ■ Von Heinz Schottenburger
Im Saal 2 des Essener Kinotempels CinemaxX blieb die Filmrolle im Schrank. Vor der Leinwand, auf der sonst die Titanic den Mythos der Unsinkbarkeit widerlegt, stemmte sich eine elfköpfige Herrenriege gegen den Untergang. Die Steuermänner des Fußballklubs Rot-Weiß Essen begannen die Jahreshauptversammlung am Mittwoch abend mit der Totenehrung und zogen am Ende einen neuen Präsidenten aus dem Zylinder
Der Kapitän, so ist schlimmstenfalls zu befürchten, darf in den nächsten Wochen den Konkursantrag unterschreiben. Der Traditionsverein hat sich in einer Altlast von sechs Millionen Mark Schulden verdribbelt. Der laufende Spielbetrieb besitzt eine Unterdeckung von aktuell 900.000 Mark, Gehälter für drei Monate stehen bereits aus. Zur sportlichen Rettung fehlen dem Regionalligisten drei Spieltage vor Saisonende happige vier Punkte. Der Abstieg würde nach 91 Vereinsjahren das Ende einer langen Reise markieren. In der viertklassigen Oberliga könnte der Klub nicht überleben.
Eine Koalition aus lederner Legende und herrschender Lokalpolitik bläst seit Mittwoch zum letzten Rettungsversuch. Willi Lippens als Trainer will die restlichen drei Spiele gewinnen und Neu-Präsident Rolf Hempelmann 900.000 Mark sofort und danach mehr besorgen. Hempelmann, Bundestagsabgeordneter der SPD für den Wahlkreis Essen-Nord, spielte schon vor seiner Wahl eine gute erste Halbzeit, die Hälfte der Kohle soll bereits auf Halde liegen. Trainer Lippens hingegen legte einen Kaltstart hin. Seit drei Spieltagen betreut er die unbezahlte Elf, wollte seinen „Jungs den Kopf freimachen und ihnen das weiße Ding mit den Balken zeigen, damit wir da beizeiten mal einen versenken“. Tatsächlich trafen seine „Roten“ bei drei Niederlagen einmal ins Tor. „Wenn ich zehn Jahre jünger wäre“, grantelt der 53jährige, der sich im Training als bester Torschütze beweist, „würde ich noch mal mitspielen.“
Als Jugendspieler wuchtete er einen Kopfball per Handstand ins Netz, in elf Profijahren für die Rot- Weißen begeisterte Willi Lippens durch seinen Watschelgang („Ente“), schier unglaubliche Virtuosität und spielerischen Humor. Nur die Ente konnte den Ball mit dem Hintern stoppen, um ihn danach mit der rechten Hacke auf den linken Fuß zu legen. Er spielte nicht nur Berti Vogts schwindlig und mußte trotzdem auf eine glänzende Länderspielkarriere verzichten. Lippens durfte die holländische Staatsbürgerschaft nie aufgeben, sein Vater war Antifaschist und Nazigegner. Und als der Wechsel zu Ajax Amsterdam schon perfekt schien, sperrten sich die Essener Fans und plakatierten die ganze Stadt: „Willi, du darfst nicht gehen!“
Ob der unentgeltlich eingesprungene Coach jetzt noch einmal etwas bewegen kann? Lippens hatte als Trainer vor fast zehn Jahren nur mäßigen Erfolg. Nicht eben glücklich, vermißt er in heikler Lage den Beistand des Publikums: „Wo sind die ganzen Lullemänner, die sich jahrelang verpißt haben? Keiner will den Abstieg, aber ins Stadion kommen sie nicht.“
Man muß wissen, daß der „Lullemann“ in tiefster Ruhrgebietssemantik etwa in der Mitte zwischen Nullchecker und Nichtbringer zu verorten ist. Dabei waren es doch die Fans, die in den tristen neunziger Jahren drei Lizenzentzüge zu verkraften hatten und in nie versiegender Zuversicht auf die Wiederkehr alter Zeiten hofften, in denen in der Ära vor der Ente ein Helmut Rahn und danach Burgsmüller, Hrubesch, „Kobra“ Wegmann und Mill aufspielten.
Die wahren Lullemänner sind wohl jene, die in Vorstand und Verwaltungsrat seit zwei Jahrzehnten jeden Kredit verspielen. Drittklassige Chargen liebten ihre Präsidenten, solange sie Geld in die Löcher pumpten. SPD-MdB Hempelmann bringt kein Geld mit, soll es aber beschaffen. Das kann zum Eigentor werden. Der energiepolitische Fachmann nämlich ist in der von Stellungskriegen zerfurchten Essener SPD nicht unumstritten, den Partei-Falken käme ein Scheitern bei der rot-weißen „Mission impossible“ nicht ungelegen.
Die hochpotente Essener Wirtschaft ist kaum zu gewinnen, das Markenzeichen des Vereins ist wenig vertrauenswürdig. Schon vor langen Jahren verließ Krupp-Chef Berthold Beitz eine Sitzung der Klubleitung mit den Worten: „Mit diesen Herren kann man nicht reden.“ Die geplante Offensive wird für Präsident Hempelmann durch ein frisches Urteil des Oberlandesgerichtes Köln erschwert. Danach muß ein Fußballverein drei Wochen nach Eintritt der Überschuldung Konkursantrag stellen.
Wirklich helfen können da nur noch die Lullemänner an der Stadionkasse. Zuerst am Sonntag, wenn der Sportclub aus der Bischofstadt Paderborn kommt. Und erst recht am letzten Spieltag gegen den Abstiegskonkurrenten Erkenschwick. Sollte dieses Spiel über den Klassenerhalt entscheiden, darf Willi Lippens auf mindestens 15.000 Besucher zählen.
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