: Zufälle unter digitalem Himmel
■ Duchamp und die Folgen: Pia Greschner stellt drei Videos zwischen Realismus und Surrealismus auf der ArtGenda vor
Seit dem 1. Mai ist in Stockholm die Biennale ArtGenda mit über 300 KünstlerInnen aus 16 Städten des engeren und weiteren Ostseeraumes eröffnet. Hamburger Vertreterin im Bereich „Single Artist: Film/Video“ist die 1967 in Kassel geborene Pia Greschner. Von 1993 bis 1998 studierte sie Freie Kunst an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und 1997 ein Semester am Central Saint Martins College of Art and Design in London. Nach Stockholm locken in diesem Jahr weitere internationale Ausstellungs-Stationen, u. a. Tel Aviv, London und New York, auf denen ihre Kurz-Videos zwischen Realismus und Surrealismus den Betrachter nach traditionell-avantgardistischer Weise – Marcel Duchamp und die Folgen – zur Mitarbeit auffordern.
Blue Hour ist der an die Romantiker erinnernde Titel eines auf 16 mm gedrehten drei-teiligen Videos, das aus dem Schwarz kommt und ins Schwarze geht und trifft: Drei Alltagssituationen werden jeweils in der Länge von ca. einer Minute gezeigt, die in Slowmotion wiedergegeben ist. Thematisiert werden ein Zurückblicken auf Menschen im Gehen, das Gehen und Zur-Seite-Blicken, eine junge Mutter, die mit Kind auf dem Arm geht. Zur blauen Stunde gedreht, geht es Pia Greschner darum, „Fragen nach der Bedeutung zu stellen, die auf eine festgelegte Erzählstruktur verzichten“. Die angestrebte Kontextlosigkeit vollzieht sich über Zufallsmomente, die eine deutliche Nähe zu surrealen Stilelementen aufweisen. Die Situationen entstehen aus dem „Off“und werden direkt in die Rekonstruktion übergeleitet. In diesem Sinne erscheint die bewußte Verlangsamung als ein aktives Moment gegen die von Paul Virilio analysierte Geschwindigkeits-Kriegs-Gesellschaft.
Ein anderes, am digitalen Schnitt-Computer bearbeitetes Video trägt den Titel Paradise Island und entstand in diesem Jahr in London. Ein exakt erforschter Ton wird als Ambient Music von Andreas Roll beigesteuert. Aufgenommen wurde dieser Wunsch-Blick mit digitalem Himmel im Kew Garden, dem artenreichsten botanischen Garten der Welt. Als Sehnsuchtsmetapher wird der Rückgriff auf das 18. Jahrhundert zu einem Sehbild von positiver Utopie: Das Video kommt aus dem Weiß und kehrt dorthin zurück.
Die innerhalb des Salons in Stockholm gezeigten Videos werden durch zwei Digital-Screens ergänzt, die den von der Künstlerin nach Gehör erfundenen, wohlklingenden Phantasienamen Niyarvardee tragen: die Konstruktion eines idealen Lebensraumes in einem Palmenwald an der Südostküste von Indien. Hierin befindet sich ein architektonisches Konstrukt, das an ein UFO erinnert. Das Paradies hat extraterrestrische Anmutungsqualität und muß – wie jede Idealität – visioniert und erfunden werden. Der Grundgedanke von Pia Greschner zu dieser Arbeit ist klar und deutlich: „Wenn man gut lebt, kann man auch gut arbeiten ...“Stimmt. Und wäre jedem zu wünschen. Als guter Realist muß man/frau tatsächlich alles erfinden.
Gunnar F. Gerlach
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