: Augenblicke der Befreiung
Spanien und die Franco-Ära: In „Der lange Marsch“ von Rafael Chirbes dominieren nationale Symbole die Gesellschaft, Antonio Muñoz Molina zieht in „Der Putsch, der nie stattfand“ die spöttische Variante vor ■ Von Leopold Federmair
In den achtziger Jahren gab es in Spanien viel Neues: eine sozialistische Regierung, eine entfesselte Markwirtschaft, kulturelle Öffnung in Richtung Westeuropa, den Beitritt zur EU und, last, but not least, eine nueva narrativa española. Dieses (heute nicht mehr ganz) „neue Erzählen“ setzte zur Zeit des ersten großen Wahlsiegs von Felipe González ein. Die neuen Autoren kehrten sich von der experimentellen Literatur ab (wie sie ein Julián Rios noch heute betreibt), aber auch vom sozialen Realismus, der in den fünfziger Jahren vorherrschte.
Kennzeichen des „neuen Erzählens“ sind klare Handlungsstrukturen, systematischer Spannungsaufbau, häufige Anleihen beim Kriminalroman. Die Bewältigung der franquistischen Vergangenheit nimmt einen wichtigen Platz ein, ohne daß politische Anliegen in den Vordergrund treten. In bestimmten Fällen drängt sich der Verdacht eines Erzählens um jeden Preis auf – vielleicht, weil es der Markt so verlangt. So wurde etwa „Der polnische Reiter“ von Antonio Muñoz Molina, der seit seinem ersten Buch („Beatus Ille“) eine der Galionsfiguren der nueva narrativa española ist, abschätzig als „Computerroman“ bezeichnet.
Einer der Stilleren der neuen Erzählergeneration ist Rafael Chirbes. Anders als der Wunderknabe Muñoz Molina veröffentlichte er erst relativ spät sein erstes Buch. Seine Arbeiten zeichnen sich durch überlegte Komposition und genaue Beschreibung von Bildern und Situationen aus. Die Gefahr des Ausuferns besteht bei ihm nicht, dafür ist das Tempo seiner Erzählungen zu bedächtig, der Ton zu elegisch. Muñoz Molina schreibt mit Ironie und Selbstironie, seine Geschichten streifen oft die Satire; Chirbes hingegen besitzt den Ernst des epischen Dichters. Sein letzter Roman, „Der Schuß des Jägers“, gibt in sehr knapper Form den Lebensrückblick eines spanischen Machos, der während der Franco-Diktatur Fortüne gemacht hat, innerlich aber gescheitert ist. Der neue, viel umfangreichere, aber nicht weniger präzis gearbeitete Roman „Der lange Marsch“ zeichnet in den Schicksalen einer Vielzahl von Figuren unterschiedlicher geographischer und sozialer Herkunft die Geschichte dieser Epoche als großes Gesellschaftspanorama nach. Die Handlungslinien setzen im Jahr 1948 ein, zu einem Zeitpunkt, als die Erinnerung an den Bürgerkrieg in den Köpfen der Menschen noch frisch ist. Sie enden um 1970 mit einem wenig hoffnungsfrohen Ausblick durch eine Gefängnisluke auf eine Madrider Straße, wo zwei Hunde um Abfälle aus einer Mülltonne kämpfen.
Muñoz Molinas kleiner Roman „Der Putsch, der nie stattfand“ beginnt mit dem Hoffnungstaumel, den die portugiesische Nelkenrevolution im April 1974 beim Protagonisten auslöst – eine Hoffnung, die der Autor mit fortschreitender Handlung (oder Nichthandlung) zunehmend ironisiert. Vergleicht man die beiden Bücher, so zeigen sich trotz ihrer verschiedenen Machart und den fast gegensätzlichen Autorentemperamenten erstaunliche Gemeinsamkeiten. In beiden Fällen gibt es eine Zelle, die zugleich erzählerisch und politisch fungiert. Es handelt sich um linksradikale Gruppen, wie sie nach 1968 auch in Spanien aus dem Boden sprossen. Chirbes erzählt die Geschichte der Mitglieder und Sympathisanten einer solchen Gruppe und ihrer Vorfahren; Muñoz läßt die neurotischen Ängste seines Antihelden im Milieu anarchistischer Verschwörung und studentischer Rebellion aufbrechen. Beide Bücher sind außerdem Madrid-Romane, die dem Zuzug vor allem bäuerlicher Schichten aus den spanischen Provinzen nachspüren. „Der lange Marsch“ entwickelt sich, wenn man den Roman sozusagen von hinten nach vorne liest, aus der politischen Zelle über das komplexe Bild der Großstadt zu einem Roman Spaniens, dessen Bewohner es aus oft entlegenen Gebieten in Richtung Zentrum zieht. Denkt man an die separatistischen und vereinheitlichenden Kräfte, die in Spanien seit langem im Streit liegen, gewinnt „Der lange Marsch“ geradezu nationalen Symbolgehalt.
Eine Chronologie mit weiten Maschen
Chirbes entscheidender Kunstgriff besteht darin, zwar von einer Handvoll Figuren auszugehen, die engen Kontakt zueinander haben, dann aber die Perspektive umzudrehen und keinen erinnernden Rückblick zu schreiben, sondern auf eigentlich klassische Weise der Chronologie von Lebensläufen zu folgen. Die Eltern jener jungen Studenten und Arbeiter im spätfranquistischen Madrid haben manchmal wenig, oft gar nichts miteinander zu tun. Sie leben in verschiedenen Gegenden Spaniens, haben unterschiedliche Ambitionen und Lebensaussichten. Das Erzählgewebe ist daher anfangs äußerst weitmaschig, und es zieht sich nur langsam zusammen.
In den düsteren Jahren der gefestigten Franco-Diktatur, als trotz allem auch ein wenig von der europäischen Aufbaustimmung durchdringen konnte, schicken sich viele der Protagonisten zu einem gesellschaftlichen Aufstieg an, der oft auf halbem Weg steckenbleibt, wenn er nicht überhaupt scheitert. Andere, wie der republikanische Militärarzt und Gynäkologe, der einzige eingesessene Madrilene des Romans, sind zum Abstieg verdammt; erst in der Spätphase der Diktatur scheint sich die Isolation des aus politischen Gründen geächteten Dr. Tabarca wieder zu lockern.
Dieses Auf und Ab über zwei, drei Generationen hinweg bildet die eigentliche Erzählbewegung, in der die Momente des Umschwungs, des Bruchs oder der Befreiung am stärksten wirken: der Schuhputzer, der am selben Abend, an dem sein Sohn seinen ersten Boxkampf bestreitet, von einem Zug überfahren wird und seine Beine verliert; der junge Student, dessen latente Homosexualität sich zum ersten Mal Luft verschafft; die Ankunft des Landarbeiters in Madrid...
Chirbes gelingen schwierige, riskante Szenen wie ein Kapitel, das einen hungrigen, vom Leben gezeichneten Hund zum Protagonisten hat, oder die Evokation eines unwillig vollzogenen Geschlechtsakts in der Wahrnehmung eines Mädchens, mit wenigen, sicheren Worten beschrieben. Von allen Figuren am ergreifendsten sind die stillen, einsamen, denen ihre Umgebung das Leben schwermacht, die aber trotzdem tapfer ihre Ziele verfolgen. Keine Helden und auch keine Versager wie bei Muñoz, sondern Individuen, Chirbes-Geschöpfe, die sich solchen Zuordnungen entziehen. Den Titel des Romans, der an Mao und an einen Slogan der Achtundsechziger erinnert, würde ich eher auf das Auf und Ab der Generationen beziehen, auf dem langen Weg der Erzählung jenseits aller Ideologie.
Muñoz Molinas „Der Putsch, der nie stattfand“ hat nicht die gleiche atmosphärische Dichte und Erinnerungstiefe, doch darauf zielt das Buch auch nicht ab. Erinnerungsarbeit ist für Muñoz schon in seinem ersten, bisher wohl besten Roman, „Beatus Ille“, der einen republikanischen Dichter der Bürgerkriegszeit ins Blickfeld nimmt, Desillusionierungsarbeit. Es scheint, daß sich Spott und Skepsis bei Muñoz im Lauf seiner Karriere verstärkt haben. „Der Putsch“ könnte man als donquijoteskes Mosaiksteinchen der spanischen Gegenwartsliteratur sehen. Hin und wieder macht sich an der Kehrseite des Spotts freilich ein Lamento bemerkbar, ein Klagen über die Vergeblichkeit des Versuchs, zeitlich Bedingtes festzuhalten. Man hört es vor allem dort, wo sich der Autor an Fotos als vermeintlich dokumentarischem Material festhalten will (ausgiebig tut er dies in „Der polnische Reiter“).
Die Helden leiden an der modernen Zeit
Eine andere Wendung nimmt „Der Putsch“ plötzlich auf den letzten Seiten des Buchs. Hier verfällt auch Muñoz ins Elegische – vermutlich leidet er, wie sein Antiheld, doch ein wenig an den modernen Zeiten. Der Ich-Erzähler trauert um sein verlorenes, im Erzählen immer auch bewahrtes Geheimnis. Indem er vom grotesken Scheitern der revolutionären Aktion berichtet, läßt er den Horizont dessen aufscheinen, was nicht war. In der Desillusionierungsarbeit lebt etwas vom utopischen Elan der frühen siebziger Jahre weiter. „Kein Mensch denkt mehr an jene Zeiten zurück, niemand erinnert sich mehr an den Winter und das Frühjahr 1974... Ich erinnere mich noch genau an alles: das ist mein Geheimnis.“
Rafael Chirbes: „Der lange Marsch.“ Roman, aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Verlag Antje Kunstmann, München 1998, 330 Seiten, 42 DM
Antonio Muñoz Molina: „Der Putsch, der nie stattfand“. Roman, aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Rowohlt Verlag, Reinbek 1998, 155 Seiten, 34 DM
Rafael Chirbes auf Lesereise: 4.5. in Aachen; 5.5. Köln; 6.5. Berlin; 7.5. Hamburg; 8.5. Frankfurt; 9.5. München
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