: Berlin ist Mitte, soweit die Füße tragen
■ Neuerdings versucht sich auch die „Frankfurter Rundschau“ an einer Berlin-Seite
Die Schlüssel-Info zur Berlin- Seite der Frankfurter Rundschau ist ein Eintrag im örtlichen Telefonbuch (Band A-H, Seite 893): „Frankfurter Rundschau Büro (Mit) Marien-19“.
Nichts Besonderes eigentlich; überregionale, nicht in Berlin ansässige Tageszeitungen brauchen ein Hauptstadtbüro. Die Süddeutsche Zeitung hat's in der Französischen Straße, die Frankfurter Allgemeine in der Meinekestraße – und die Frankfurter Rundschau eben in der Marienstraße. Doch seit dem 3. April hat auch die FR, was die SZ schon Anfang 95 als mittwöchliche Blattzutat institutionalisierte und FAZ-Geschäftsführer Jochen Becker „zur Zeit nicht“ für nötig befindet: eine Berlin-Seite (freitags, Seite 8).
Man habe, so verkündete die FR vor vier Wochen, nicht warten wollen, „bis der letzte Bonner Politiker und der letzte Beamte die Spree erreicht haben“, und trüge von nun an „der Tatsache Rechnung, daß fernab vom Rhein neue politische, kulturelle und wirtschaftliche Schwerpunkte entstehen“. Was klingt, als hätte man auch fernab am Main entdeckt, daß Berlin keine eigenbrötelnde Satellitenprovinz (mehr) ist.
Für das Debüt hat die Berliner FR-Redaktion in der Marienstraße jedenfalls erst mal kräftig aus dem Fenster geschaut: „Die Texte wollen zugleich einen Blick auf die Umgebung erlauben, in der sie entstanden sind“, hieß es im Auftakt- Editorial. Gleichwohl zeigen die Texte zuvorderst das Blickfeld, aus dem heraus sie entstanden:
„Die Marienstraße ist Mitte“, verriet deshalb gleich der allererste Satz eines Panorama-Artikels über das wohl feuilletonistischste Metropolenviertel. Und wenig später, wenngleich nicht weniger programmatisch, stand zu lesen: „Die Marienstraße ist die Mittelnaht im steinernen Geviert zwischen Weidendammer und Marschallbrücke, Spree und Schumannstraße. Typisch für Berlin...“ So typisch wohl, daß sich der allwöchentliche „Berliner Feuilleton“-Kolumnist Helmut Böttinger in der gutbürgerlichen Allerweltswirtschaft „Marienstübl“ (Mittagstisch – Langweile – Notizblock?) flugs „dreißig Quadratmeter Glück“, „ein preußisches, ein östliches Behagen“ und „ein Bierchen, das schmeckt“ herbeibeobachtete.
So typisch auch, daß den Marienstraßenredakteuren auch in den darauffolgenden Wochen kein Fußweg zu weit war – egal ob's zu „Orplid & Co“ in der Dorotheenstraße (Luftlinie 250 Meter) ging, ob über die S-Bahn-Brücke Friedrichstraße (150 Meter), zum „Tränenpalast“ (200 Meter) oder auf die Reichstagskuppel (400 Meter)... Und wo die routinierte Süddeutsche-Konkurrenz immerhin Wohnzimmerparties, Sozi- und Bundestag-Souvenirs entdeckt und darüber hinaus so manchen klugen Republik- (bzw. Bayern-)Bezug herzustellen weiß, ähnelt der Rundschau-Ton bisweilen jener nicht enden wollenden Glossenflut in der lokalen Tagespresse, die ihren Wilmersdorfer oder Pankower Lesern mit Laubenpieper, Grillverbot & Hundekot von Kontinuität und Wir-Gefühl erzählen. Auch in der FR fehlen ergo weder die Currywurst (wahlweise „am Kurfürstendamm“, „von Konopke“, „beim Vietnamesen nebenan“ oder auch bloß „an der Ecke, bei Wind und Wetter genossen“) noch preußische (Bonn-)Verächtlichkeit oder die goldnen Zwanziger – ja, selbst der „Eckensteher Nante“ entgeht seiner Erwähnung nicht.
Zugleich macht sich die Rundschau, mit der die Rundschau deutsches Bürgerlichkeitsallerlei zur Zille-Romantik verklärt, bislang doch sehr die getrübte Außenwahrnehmung jener Wochenendtouristen zu eigen, die sich überlegen, ob sie lieber zum Musical nach Hamburg oder zum Varieté nach Berlin anreisen.
Mit „kritischer Sympathie (...) für Menschen und Ecken, für Kneipen und Typen in Berlin“ beschrieb Berlin-Redakteur Stephan Hebel das Ideal der neuen FR- Seite und gelobte: „Diese Seite wird keinen Metropolen-Jubel verbreiten.“ Immerhin: Gewalthauptstadt-Panik à la Spiegel steht aus der Marienstraße ebenfalls nicht zu befürchten – schließlich ist der Weg nach Neukölln während der Mittagspause zu Fuß kaum zu bewältigen. Christoph Schultheis
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