: Endstation auf dem Weg nach Westen
Die Ukraine ist zur Anlaufstelle Tausender Flüchtlinge geworden. Sie kommen aus den GUS-Staaten, aber auch aus Afghanistan, Pakistan, Angola, Somalia. Sie wollten nach Westeuropa und bleiben in Kiew ■ Aus Kiew Barbara Oertel
Frankfurt am Main war das Ziel seiner Träume. Dort wollte Mohammed Ajub aus der afghanischen Hauptstadt Kabul ein paar Monate arbeiten. Damit es ihm, seiner Frau und den drei Kindern einmal etwas besser ginge. Im März vergangenen Jahres machten sich der 31jährige und sieben weitere Afghanen auf den Weg. In Tadschikistan mußte jeder erst einmal 3.500 Dollar an eine Schlepperorganisation zahlen. Bei der Ankunft in Deutschland sei pro Kopf noch mal die gleiche Summe fällig, hieß es. „In Moskau wurden wir am Bahnhof abgeholt und in einen Zug nach Weißrußland gesetzt“, erzählt Mohammed. In Gomel warteten zwei Wagen, die die acht Männer nachts über die Grenze in die Ukraine brachten.
In Kiew fand Mohammed Aufnahme bei einem Freund. Drei Tage später erfuhr er, daß seine Mitreisenden ohne ihn in Richtung gelobtes deutsches Land aufgebrochen waren. Jetzt, fast ein Jahr danach, ist er immer noch in der ukrainischen Hauptstadt. „Monatelang habe ich mich nicht aus der Wohnung getraut“, erzählt er. Als er doch einmal einen Fuß vor die Tür setzte und prompt der Miliz in die Hände fiel, stellte er einen Antrag auf Anerkennung als politischer Flüchtling. Anfang März kam die Antwort: abgelehnt. Mohammed hat aufgegeben. Er will zurück nach Hause.
Am 24. Dezember 1993 unterzeichnete der damalige Staatspräsident Leonid Krawtschuk das Gesetz über Flüchtlinge. Als solcher gilt laut Artikel eins des Gesetzes, wer aus rassistischen, nationalen und religiösen Gründen oder weil er einer bestimmten sozialen Gruppe angehört, verfolgt und dadurch gezwungen ist, sein Heimatland zu verlassen. Den Status, der jeweils befristet für drei Monate gewährt wird, erhält nicht, wer aus einem sogenannten sicheren Drittland in die Ukraine eingereist ist.
Das wiederum veranlaßte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, seit September 1995 mit einer ständigen Vertretung in der Ukraine präsent, den Gesetzgeber zu Nachbesserungen aufzufordern. Auch Bürgerkriegsflüchtlinge müßten in der Ukraine einen legalen Status erhalten. Das gleiche gelte für Personen, denen eine Rückreise in das sichere Drittland nicht möglich sei, heißt es in einer Stellungnahme des UNHCR vom vergangenen Jahr. Seit Inkrafttreten des Gesetzes bis zum 1. Januar 1998 hat die Ukraine 2.500 Personen als politische Flüchtlinge anerkannt – in Rußland waren das im gleichen Zeitraum 170 Personen.
Es sind nicht die legalisierten Flüchtlinge, die zumindest mit umgerechnet 40 Mark staatlicher Unterstützung im Monat ausgestattet sind, denen es am schlechtesten geht. Vor allem die aus anderen Staaten Abgeschobenen und Gestrandeten irren oft bereits monatelang mittellos durch das Land, dabei immer die Angst im Nacken, bei der erstbesten Kontrolle aufgegriffen zu werden. Im Gegensatz zu Rußland und Weißrußland hat die Ukraine mit Polen ein Abkommen über die Rücknahme von Flüchtlingen abgeschlossen.
„Die Menschen sind völlig verschüchtert und verzweifelt. Sie glauben schon nicht mehr daran, daß ihnen überhaupt noch jemand hilft“, sagt Petr Burlaka, geschäftsführender Direktor des Internationalen Zentrums zur Unterstützung von Migranten, des ersten in der Ukraine, das vor rund sechs Wochen in Podol, dem ältesten Stadtteil von Kiew, die Arbeit aufgenommen hat und den Flüchtlingen eine Rechtsberatung anbietet. Über 70 Personen hätten sich seitdem bereits gemeldet. Täglich würden es mehr. „Sogar aus entfernten Städten und Regionen wie Dnepropetrowsk und dem Donezk-Gebiet kämpfen sich die Leute bis hierher durch. Wir sind für sie der letzte Hoffnungsschimmer.“
Allein für Kiew wird die Zahl illegaler Migranten auf 50.000, in der gesamten Ukraine auf mehrere hunderttausend geschätzt. Die Mehrheit von ihnen kommt aus den GUS-Staaten, aber auch aus Afghanistan, Pakistan, Angola und Somalia. „Die Ukraine ist für viele Flüchtlinge vor allem deshalb attraktiv, weil die Grenzkontrollen noch nicht so massiv sind und der Lebensstandard hier wesentlich niedriger ist als in westlichen Metropolen“, sagt Petr Burlaka.
Noch bis vor kurzem arbeitete der Jurist im Ministerium für Migrationsangelegenheiten. Doch dann stieg er aus. „Mir war klar, daß der Staat auf absehbare Zeit keine Mittel würde aufbringen können, um diese Probleme anzugehen.“ Staatliche Hilfe hat auch das Zentrum nicht zu erwarten. Finanziert wird das Büro bislang von der International Organisation for Migration (IOM), einer US-Organisation, die in der Ukraine an zahlreichen Flüchtlingsprojekten beteiligt ist. Die Rechtsberatung ist nur der erste Schritt. Noch im Mai soll eine Arztpraxis eingerichtet werden. Im Laufe des Jahres sollen Kurse zur beruflichen Weiterbildung dazukommen. „Diese Menschen sind in Not. Es ist unsere Pflicht, ihnen zu helfen“, sagt Burlaka.
Zum Beispiel eben Mohammed. Während des Gesprächs hat Wiktor Pako, der täglich die Rechtsberatung macht, einen Schein ausgefüllt. Den soll Mohammed vorzeigen, sollte er zufällig mal wieder einem neugierigen Milizionär begegnen. Dann verspricht Pako, beim örtlichen Paß- und Visabüro anzurufen. Für seine Heimreise braucht Mohammed ein Ausreisevisum. Das aber kostet umgerechnet 70 Mark. Sein Barguthaben jedoch beläuft sich noch auf 50 Pfennig.
Sollte das Visum unvermeidlich sein, wird das Zentrum dafür aufkommen. Genauso wie für das Flugticket, das noch mal mit einigen hundert Dollar zu Buche schlägt. „Sie sind der 130ste auf der Liste, wie lange es dauert, weiß ich nicht“, sagt Pako. Mehr kann er heute für Mohammed nicht tun. Doch die Zeit drängt. Bis Ende Mai muß der Afghane die Ukraine verlassen haben.
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