: Regelwerke für Atomkraftwerke
■ Das AKW Krümmel unter Experten: Gutachten folgt auf Gutachten, und die Stillegung läßt auf sich warten
Es war die Zeit der Erdölkrise und der regierungspolitischen Forderung, Westeuropa müsse auf dem Energiesektor unabhängiger werden: In diesen 70er Jahren wurde das Atomkraftwerk Krümmel in Geesthacht als letzter der vier Atomreaktoren rund um Hamburg errichtet. „Zu diesem Zeitpunkt“, erinnerte am Montag abend der technische Gutachter Lothar Hahn vom Darmstädter Ökoinstitut, „gab es kein geschlossenes deutsches Regelwerk für Nuklearanlagen“.
Die Dokumentation der Bau-schritte „entspricht nicht den heutigen Anforderungen“. Das alles, suchte Hahn vor rund 200 Krümmel-GegnerInnen in Geesthacht zu erklären, mache es zur „Knochenarbeit“, im nachhinein aus „den Umzugskartons voller Teilgenehmigungen und Auflagen“ zu überprüfen, welche davon befolgt wurden, warum es Abweichungen zwischen Plänen und tatsächlichem Konstrukt gebe und wie bedeutend diese, vor allem am hochsensiblen Reaktordruckbehälter, seien.
Mit diesem technischen Gutachten war Hahn vom Kieler Energieministerium beauftragt worden. Sein Ergebnis befriedigte die wenigsten im Saal: Ja, erklärte der Wissenschaftler, es gebe „Ungereimtheiten und Abweichungen“, sogar „bedeutende Abweichungen, die sicherheitsrelevant sind“. Eine Stillegung sei aber nur dann „obligatorisch, wenn eine erhebliche Gefährdung vom AKW ausgeht“. „Diese Frage ist noch nicht geprüft.“ Das bestätige auch der Berliner Atomrechtler Reiner Geulen, der das Stillegungsbegehr für das Ministerium juristisch untersuchte.
„Es wird weitere Schritte geben“, suchte Energieminister Claus Möller (SPD) die aufkommende Spannung im Saal zu beschwichtigen. Soll heißen: Die Studien werden vertieft, weitere Analysen gezogen, die Abweichungen unter dem Aspekt der Sicherheitsrelevanz „neu bewertet“. Eine Botschaft, die Menschen in der AKW-Region, wo überdurchschnittlich viele Kinder aus ungeklärter Ursache an Leukämie erkrankt sind, die Zornesröte ins Gesicht treibt: „Ich erwarte mehr politischen Mut“, bezweifelte die BUND-Vorsitzende aus Niedersachsen, Renate Backhaus, den Ausstiegswillen der rot-grünen Kieler Regierung.
„Die Grünen in Schleswig-Holstein geben die CDU ab“, wetterte Krümmel-Kläger Hajo Dieckmann. Sein Anwalt Uli Wollenteit forderte, das AKW, das sich als ungenehmigter „Schwarzbau“ entpuppt habe, solange stillzulegen, bis die Sicherheitsuntersuchung abgeschlossen sei. Schließlich, „Herr Merkel, äh Möller“, verglich Eugen Prinz vom BUND den Energieminister mit CDU-Bundesumweltministerin Merkel, handele es sich bei Krümmel „nicht um eine Anlage, die Kernseife produziert“.
Heike Haarhoff
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