: Letzte Hoffnung: Liebe
Russische Zeitstücke in Dresden und Leipzig: Zwei Regisseurinnen inszenieren zwei Dramatikerinnen ■ Von Hartmut Krug
Ein schäbiger Bankettsaal, das Parkett wölbt sich zu Wellen durch die Weite des Raumes. In der Wohnungstür eine junge Frau, die Koffer in der Hand und den Wunsch nach einer Unterkunft in Moskau im Herzen. Aus einer offenen Tür schallt Schreibmaschinengeklapper, und dann treffen sie aufeinander: Jura, der Hauswart und Dichter, der über das Leben schreibt und es von sich abwehrt; und Maria, gerade geschieden und doch immer noch offen fürs Leben und die Liebe. Die beiden horchen auf die Töne hinter ihren Worten und ihrer Körpersprache. Sie entdecken etwas, das kaum Zukunft haben wird, weil der Mann sich in Ljudmila Rasumowskajas „Wohnhaft“ nicht aus seiner emotionalen Deckung wagt.
In Ljudmila Petruschewskajas „Drei Mädchen in Blau“ sucht Nikolai, privilegierter Staatsdiener, bei seiner Zukunftsbekanntschaft Ira nur die geregelte Affäre für den verheirateten Mann. Zwei Stücke über den russischen Alltag, zwei bittere Milieustudien über ein kaputtes Rußland mit gedemütigten und sich gegenseitig demütigenden Menschen. Helden des Alltags, längst mit gebrochenem Rückgrat, die sich immer wieder gegen die Härte des Alltags zu wehren versuchen. „Wohnhaft“ beginnt 1983 in Leningrad in einer kommunalen Wohnung. Die vielen Mietparteien, die aufeinanderprallen, müssen in der gemeinsamen Wohnung miteinander auskommen und kämpfen um jedes (durch Tod) freiwerdende Zimmer. Maria und Jura, dazu die lebenshungrige Nina mit kesser, frühreifer Tochter, der Säufer Kolja mit schwangerer Frau, eine alte Blockadekämpferin – sie kämpfen und leben, sie lieben oder belauern sich gegenseitig. Ein Leben in Erbärmlichkeit, ohne Utopie. Aber mit dem Milizionär als Machthaber, der Maria mit ihrer fehlenden Zuzugsgenehmigung sogar erpressen und vergewaltigen kann. Ein neues Stück wie vom alten Tschechow.
Ljudmila Rasumowskaja (Jg. 48) ist in Deutschland durch ihr Stück „Liebe Jelena Sergejewna“ (1981) bekannt geworden. Ein psychologischer Reißer, in dem sich eine Lehrerin und ihre Schüler bis zur Gewalttätigkeit über Lebensformen und -normen des Sozialismus auseinandersetzen. Das realsozialistische Gegenstück zu Trevor Griffiths „Klassenfeinde“ wurde nach seiner Talliner Uraufführung in Rußland lange verboten, in Deutschland wird es viel gespielt. Die Perestroika hat der Dramatikerin im Heimatland wenig gebracht: Neun Stücke hat sie seit 1990 geschrieben, nur zwei von ihnen sind bisher in Rußland aufgeführt worden. Das derzeitige russische Theater will nicht erhellen, sondern unterhalten.
In Dresden versucht die Dramaturgie, ein deutsches Stück daraus zu machen, eine Information über Nachwendeverwerfungen in einem ehemals realsozialistischen Land. Teil zwei von „Wohnhaft“ spielt 1995. Die Stadt heißt nun St. Petersburg, und Maria hat ein Kind und arbeitet bei der Kirche. Äußerlich hat sich wenig geändert, doch um den Kühlschrank ist eine mächtige Eisenkette geschlungen. Die Perestroika empfindet hier niemand als Segen, denn außer neuer Unsicherheit hat sie nichts gebracht. Statt aggressiver Nähe herrscht jetzt mißtrauische Distanz. Die Wohnung im zentralen einstigen Aristokratenviertel zieht den neuen Machthaber an, den Investor. Bei einer Rangelei mit dessen Bodyguards stirbt die alte resolute Blockadekämpferin, und Jura, der als Mitarbeiter des Investors in seine ehemalige Wohnung kam, findet zu seinen moralischen Werten zurück. Er ruft die Miliz, was ihn wahrscheinlich nicht nur seinen Job, sondern auch sein Leben kosten wird. Ljudmila Rasumowskaja sah bereits 1986 die Hauptaufgabe darin, „zu unseren geistigen, kulturellen und moralischen Ursprüngen“ zurückzukehren. „Die Leute schreien sich an, weil sie unglücklich sind, sie sind nicht nur Schweine, es gibt eine nicht ausrottbare Güte und Herzlichkeit“, sagte Rasumowskaja während einer Lesung in Dresden. Und: „Die Perestroika, diese schreckliche Revolution, wurde dem russischen Volk gesandt, damit es zu Gott zurückfindet.“
Regisseurin Irmgard Lange unterspielt zum Glück die religiöse Seelenhaftigkeit der Figuren, inszeniert sonst aber mit bravem, atmosphärischem Bilderbuchrealismus. Das bleibt in jedem Augenblick nur Theater, obwohl es das Leben abbilden will.
Während Konstanze Lauterbachs Leipziger Inszenierung von „Drei Mädchen in Blau“ viel vom Leben erzählt, weil kunstvoll und bewußt Theater gespielt wird. Die Bühne: ein Assoziationsraum, eine Druckkammer der Gefühle. Drei Cousinen mit Kindern und anderem Anhang müssen sich auf einer maroden Datscha miteinander einrichten. Ljudmila Petruschewskajas (Jg. 38) 1980 entstandenes und erst 1985 vom Verbot befreites Stück ist im lakonisch-bitteren Alltagsjargon geschrieben. Es geht um Geld, Essen, Wohnenge, das fehlende Klo. „Ich suche im ,Müll‘ die Blume.“ Das Private als Seismograph des Gesellschaftlichen, „Drei Schwestern“ von heute. Ein leerer Raum, an den weißen Wänden Stuhlreihen und Plastikbecher, viel Kälte und ein Spiel mit den die Bühne einhüllenden blauen Federn der Hoffnung. Regisseurin Lauterbach holt Tempo und Härte, Leidenschaft und zarte Sehnsucht aus den Menschen des Stückes, ihr von musikalischem Rhythmus, von atmosphärischer Bildhaftigkeit und wie improvisiert wirkender Schauspielerei geprägter assoziativer Spielstil befreit die Schauspieler aus erklärendem Vorspiel (wie zu sehen in Dresden) und zieht das Stück, indem es dieses auseinandernimmt und zu neuer, offener Form montiert, ganz unangestrengt ins Heute. Regietheater für die Schauspieler, zeitgenössisches Theater über die Sehnsüchte der Menschen. Letzte Hoffnung Liebe, immer wieder getrogen. Doch sie bleibt lebendig, wie das Theater, das Konstanze Lauterbach macht. Theater von heute in Leipzig, Theater von gestern in Dresden. So ist es eben mit der russischen Dramatik.
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