: Der innere Bezirk
„Was andere so Leben nennen“: Zum Tod des schwäbischen Erzählers und Chronisten des Alltags, Hermann Lenz ■ Von Werner Jung
Hermann Lenz ist tot, gestorben an einem herrlichen Frühlingstag in München, wenige Monate nach seinem 85. Geburtstag. Nachrufe wird es jede Menge geben. Ob das jedoch die Popularität seines erzählerischen Werkes zu steigern vermag – eines imposanten Oeuvres von immerhin mehr als 30 Titeln –, läßt sich stark bezweifeln. Lenz hatte seit vielen Jahrzehnten eine treue Lesergemeinde, die dem stillen Sog seines träumerischen, wahrnehmungsscharfen Erzählens verfallen ist. Das große Publikum hat der Büchnerpreisträger von 1978 dagegen nie erreicht und es wohl auch gar nicht erreichen wollen.
Lenz ist ein Vertreter der Dekade der westdeutschen Nachkriegsliteratur, die in den sechziger Jahren vor allem auf der Achse Köln–Stuttgart entstand. In Köln scharte sich Anfang der sechziger Jahre eine Reihe jüngerer Autoren um den Schriftsteller und Lektor Dieter Wellershoff – eine Gruppe, die, von Wellershoffs theoretischen Vorstellungen eines „Neuen Realismus“ beeinflußt, die nachmalige „Neue Subjektivität“ bzw. „Innerlichkeit“ prägte. Rolf Dieter Brinkmann, Günter Herburger oder Nicolas Born gehörten dazu.
Lautloser und unbemerkter von der Kritik vollzog sich das, was von Stuttgart aus in die literarische Öffentlichkeit geschickt wurde, stetig und beharrlich seit Ende der 40er Jahre. Anfangs trat der Erzähler Hermann Lenz dort noch im Zeichen eines „magischen Realismus“ auf, wie er für die Entwicklung in der unmittelbaren Nachkriegszeit durchaus typisch gewesen ist. Dann, seit den späten 50ern, frühen 60er Jahren, fand er unverwechselbare, eigene Töne. 1964 erschien sein Roman „Die Augen eines Dieners“, zwei Jahre später der erste Teil des bis Mitte der 90er Jahre auf sieben Bände anwachsenden Erzählepos über die Figur des Schriftstellers Eugen Rapp, den er einmal als „Volksausgabe des Schriftstellers Hermann Lenz“ bezeichnete. Lenz' breit angelegte „Schwäbische Chronik“ rekonstruiert deutsche Geschichte als Alltagsgeschichte, erzählt aus der Perspektive eines Außenseiters und Unangepaßten.
1972 gibt Lenz das von Peter Handke besonders geschätzte Buch „Der Kutscher und der Wappenmaler“ heraus, mit dem – eben dank Handke – so etwas wie eine kleine Lenz-Renaissance einsetzt. 1980 folgt der Roman in drei Bänden „Der innere Bezirk“, ein Erzählstück, das die Lenzsche Haltung bis in die präzise Titelgebung hinein pointiert: In allen Texten, einschließlich der vielen verstreuten Gedichte oder auch der vereinzelten Aufsätze und Essays, geht es darum, eine an der stoischen Lebensphilosophie und Ethik, insbesondere an Mark Aurel orientierte Haltung (Motto: „Sieh nach innen“) zu demonstrieren, eine Haltung, die meist von Eckenstehern und Randfiguren „nebendraußen“, um eine Lenzsche Formulierung zu gebrauchen, vertreten wird. Sie umschließt den ebenso distanzierten wie differenzierten Blick eines Fremden, der die Dinge und Verhältnisse im Zentrum der Zeit und Gesellschaft genauer und vorurteilsloser überschauen kann.
Andererseits – und eben hierin steckt die ungeheure Modernität dieser Literatur, ihre Attraktivität für postmoderne Autoren von Handke bis zu Ortheil – verbindet sich die Vorliebe des konservativen Lenz, der für Mörike, das Biedermeier und Österreich um die Jahrhundertwende schwärmt, mit der gewaltigen Aufgabenstellung, herausfinden zu wollen – nein: zu müssen –, wer man ist, wer dieses sich nun unverhüllt autobiographisch artikulierende Ich ist, das da fortwährend spricht und schreibt.
„Gewissermaßen, sozusagen“. Das sind zwei häufig verwendete Lieblingsvokabeln von Lenz, die als kalkuliert eingesetzte Flickworte die Unübersichtlichkeit unserer Zeit und modernen Lebensbedingungen, die Flüchtigkeit auch unseres Ich umreißen. Wir alle, wußte schon Freud in Fortsetzung Nietzsches, sind nur Fragmente dessen, was wir sein könnten. Hiergegen setzt Hermann Lenz ebenso unbeirrt wie zugleich tief erschüttert den langen Atem des Epikers, der in seinem Gesamtschaffen, in seinem einen einzigen und riesigen Erzählstrom bis zuletzt die Anstrengung des Erinnerns und Aufbewahrens, die Arbeit am Alltag der Geschichte und die Mühsal der Ichfindung betrieben hat.
Im Gedicht „Rückblick“ heißt es zum Ende hin: „Was die anderen so Leben nennen, war für dich mühsam. Geschafft hast du es nie.“ Und dann: „Wenn du nur durchkommst.“ Jetzt hat er es wohl geschafft.
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