: Verstrahlte Castoren mit System
Offizieller Bericht belegt: Industrie und Regierung wußten von verstrahlten Atomtransportern, doch keiner tat was: 10 Jahre lang bis zu 500fach überhöhte Strahlung ■ Aus Paris Dorothea Hahn
Frankreichs Atomindustrie ist ein Sauhaufen, in dem niemand durchblickt. So etwa ließe sich der Bericht zusammenfassen, den der Chef der französischen Nuklearsicherheitsbehörde DSIN, André- Claude Lacoste, gestern Premierminister Lionel Jospin vorlegte. Auf knappen zehn Seiten versucht er zu erklären, warum jahrelang kontaminierte Züge quer durch Frankreich fahren konnten, ohne daß irgendeiner der zahlreichen Mitwisser „Alarm“ schrie.
Lacostes Bericht belastet alle Seiten: Atomindustrie, staatliche Aufsicht bis hin zur Regierung. Er erklärt, daß die Kobalt-60- und Caesium-137-Flecken auf den Atomtransporten „zum Glück keine gesundheitlichen Folgen“ haben würden. Außerdem empfiehlt er „mehr Strenge“ und „mehr Sauberkeit“ in den AKWs, bevor die von der Bahngesellschaft SNCF suspendierten Brennelementetransporte wiederaufgenommen werden.
Die Atomzüge bringen abgebrannte Brennstäbe aus den 19 französischen sowie aus deutschen und Schweizer AKWs zu dem Verladebahnhof Valognes, von wo aus sie die restlichen 30 Kilometer bis zur WAA am Kap La Hague per Lkw transportiert werden (taz vom 7.5.98). Seit mindestens 1988 waren 35 Prozent von diesen Transporten auf den Außenseiten von Containern und Waggons kontaminiert. Die Strahlung lag bis zu 500fach über der zugelassenen Höchstgrenze von 4 Becquerel pro Quadratzentimeter.
Lacostes Bericht zeigt, daß die komplette Atomindustrie informiert war: Die AKW-Betreiberin EDF, die die strahlende Last auf die Reise schickte, die Gesellschaft für die Verarbeitung von Nuklearmaterial (Cogema), die die WAA betreibt, sowie deren für den Transport zuständiges Subunternehmen Transnucléaire. „Regelmäßig“ habe auch der für Gesundheit zuständige Ausschuß der Cogema über das Problem beraten, heißt es bei Lacoste. Doch die Eisenbahngesellschaft SNCF, deren Mitarbeiter ohne Handschuhe und ohne Mundschutz an den „Atomzügen“ herumhantierten, erfuhr nichts. Die regelmäßig von den Eisenbahnergewerkschaften wiederholte Forderung nach Geigerzählern wurden von der SNCF stets mit dem Hinweis auf die „Gefahrlosigkeit der Transporte“ abgewiegelt.
Die Bestrahlung von Eisenbahnern und Passanten wäre vermeidbar gewesen. Bereits vor 15 Jahren war in einem Schreiben an die Strahlenschutzbehörde OPRI von der Eventualität kontaminierter Züge die Rede, erklärte Lacoste gestern in einer Pressekonferenz. Warum das OPRI die Sache nicht weiterverfolgte, blieb dabei ebenso offen wie die Frage, ob es vorschriftsgemäß die Regierung informiert hat. Seit 1988 – so viel steht fest – verfügten die Betreibergesellschaften über konkrete und beunruhigende Zahlen über die kontaminierten Züge. Aber erst als Recherchen des unabhängigen Pariser Energieinstitutes WISE den Skandal Anfang Mai anprangerten, reagierte EDF-Sicherheitschef Daniel Dubois: „Wir haben zu spät gemeldet. Das war ein Fehler.“
Der gestern wegen „Abwesenheit von Kontrolle“ von Lacoste gegeißelte französische Staat finanzierte jahrelang nur eine halbe Stelle im Transportministerium für die Aufsicht. Erst vergangenen Juni übergab er die Kontrolle an die dafür kompetente Nuklearsicherheitsbehörde DSIN.
Der Bericht läßt immer noch viele Fragen offen. So bleibt unklar, wie die strahlenden Partikel von den Transportcontainern auf die Waggons geraten konnten. Lacoste vermutet Schlamperei beim Verladen aus den Abklingbecken – ohne freilich erklären zu können, was die Elemente Kobalt 60 und Caesium 137 im Kühlwasser der AKWs zu suchen haben. In Zukunft will Lacoste die Ausgangskontrolle bei den AKWs verstärken. Wenn die Strahlung erst einmal entdeckt ist, kann sie „problemlos von den Containern und Waggons gewischt werden“, versichert Dubois von der EDF.
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