Rhythmen wie das Wiegen der Gräser im Wind

■ Das mongolische Oktett „Egschiglen“ vermittelte im Vegesacker KITO eine Vorstellung vom Klang des Windes in Ulan Bator

Noch vor 200 Jahren war der akustische Erwartungshorizont so klar umrissen, daß er von der winzigen, sanften Abweichung einer Kastratenstimme gesprengt werden konnte – was gelegentlich zu Ohnmachtsanfällen führte. Heute haben wir das große Vergnügen, auf immer neue unbekannte, staunenmachende Klänge zu stoßen: Erst war–s das Mysterium des Buckelwalraunens, dann jenes der orkanartigen bulgarischen Frauenstimmen. Es folgten Didgeridoo, tibetisches Ohmbrummen, afrikanische und arabische Popmusik.

Und noch immer weist die musikalische Karte im Unterschied zur geografischen verführerische weiße Flecken auf. Zwar mag der eine oder andere von den sibirischen „Huun-Huur-Tu“ oder den mongolischen „Egschiglen“ schon gehört oder gelesen haben; wenn man aber zum ersten Mal das unerklärliche Surren aus einwandfrei menschlichem Mund hört, reißt es einen doch. Wie ist es möglich, daß jene Kehlkopf-, Zwerchfell- und Zungenmuskulatur, die man doch aus eigenem tagtäglichen Gebrauch so gut zu kennen meint, solch eigenartige Töne zustande bringt?

Auch das Publikum im Vegesacker KITO zeigte sich am meisten vom Reiz des Fremden beeindruckt. Fünf InstrumentalistInnen, zwei SängerInnen und eine Tänzerin traten auf. Am enthusiastischsten wurde Sänger Khosbajar Dangaa beklatscht; nicht deshalb, weil er am besten wäre – wer hat schon einen ästhetischen Maßstab, das Unbekannte zu bewerten? – sondern deshalb, weil er am eigenartigsten klang.

Egschiglens Knödeln, Säuseln, Brummen, Gurren ist erklärbar durch eine andere Atemtechnik, andere Brustresonanz und durch das Hinzuaddieren von Obertönen; hörbar ist es irgendwie auch als Symbol; nämlich dafür, daß menschenmöglich doch mehr ist, als man ahnte, erhoffte, befürchtete.

Zum Eindruck des ganz Anderen gesellt sich bald der des Ähnlichen. Im KITO hörte man Balladen, Blues, ein bißchen Jazz-Offbeat, ein bißchen Rockhämmern und bei Instrumentals auch sehnsüchtige Schubertharmonien, erzeugt mit den Mitteln der Pentatonik. Die Bogentechnik ist gar nicht so weit weg von der historischen Musikpraxis, mit der heute Vivaldi traktiert wird. Und ein Stück nahm in den Einleitungen und Zwischenspielen Anleihen bei der Atonalität unseres Jahrhunderts. Keine eingefrorene Kultur war zu begucken, sondern eine in Bewegung. Auch wenn Egschiglen, anders als Huun-Huur-Tu, nicht mit dem Kronos-Quartett oder Frank Zappa zusammenspielen.

Morin Khuur, die zweisaitige Geige, sieht ganz anders aus als der abendländische Streicherprototyp. Doch in den trapezförmigen Leib sind relativ vertraute f-förmige Resonanzlöcher geritzt. Und der Hals ist wie bei „uns“ nach innen geschwungen: nur ist es keine stilisierte Schnecke, sondern ein naturalistischer Pferdekopf.

Und spätestens beim Anblick der Holzpferde stellen sich zur Musik Bilder ein: von der Weite der Steppe, dem unendlichen Zug der Wolken, dem gelassenen Wellengang auf weiten Grasflächen im Wind. Bilder, die sich der notorische Italienreisende natürlich Second hand erworben hat. Zum Beispiel aus „Urga“, dem preisgekrönten Spielfilm des Russen (!) Nikita Michalkov, oder aus den Erzählungen von Galsan Tschinag, Sohn tuwinischer Viehzüchter, der aber schon als Student in die unergründlichen Weiten der DDR ausgezogen ist; oder von „Shambala“, einem Film der Deutschen Susanne Aernecke, der vom Wiedererwachen mongolischen Traditionsbewußtseins erzählt.

Es beinhaltet ein Geschichtsbewußtsein, das Dschingis Khan mit all seinem Weltmachtanspruch gottgleich verehrt. Auch zwei Lieder von Egschiglen waren dem Diktator gewidmet. Und schon haben wir wieder ein Stück Fremdheit bei aller Nähe. bk