: Wann ist Rhabarberkuchen Kunst ?
■ Zu Besuch bei 65 Künstlern: Drei Tage der offenen Tür im einzigartigen Künstlerhaus im ehemaligen Güterbahnhof
Vielfältig sind die Aktivitäten im Künstlerhaus mit dem Schmunzelnamen „Güterabfertigung“. Fünf ArchitekturstudentInnen pflanzen probeweise hellblaue Styroporkuben ins Baukasten-Stadtbild. Und so bekommt auch die Shakespearecompany mit ein paar Messerhieben eine virtuelle neue Heimat. Gut 100 Meter entfernt: Wind und eine Toilettentür bedienen – über ein Seilzugsystem vermittelt – mit vereinten, sanften respektive ruckartigen Kräften die Kreide einer Schiefertafel; und siehe da: Die Welt zwischen Wohnen und Wetter hat ihren eigenen Herzschlag; ihr EKG ist kariert. Und auch publiziert wird an diesem Ort: „Der Salmoxisbote“ (Preis: 5 Mark, Auflage: 100 Stück) widmet sich nicht nur philosophie- und bibelzitatreich seiner unergründlichen, zielfreien Bekehrungsarbeit, sondern auch so einschneidenden Themen wie der Erforschung von Leben und Werk des weltbedeutendsten Künstlers. Er heißt Waldemar Koslowsi, stammt aus dem glückseligen Delmenhorst, und seine Existenz ist noch ein Stück weit fragiler als die des hellblauen Shakespeare-Theaters.
Der gute Geist des Hauses schwankt lustvoll und entspannt zwischen Dadaismus und Ernst. Wo von bürgerlich-adretter Wohnkultur weit und breit nicht das Geringste zu sehen ist, scheinen auch bürgerliche Existenzängste gebannt. So arbeiten denn erstaunlich viele Maler im kleinen Zeichenformat, weit weg von den Verkaufsschlagern der 80er, den Lüpertzs, Schnabels, Kiefers. Zum Beispiel Uwe Teichmann. Die kleinfusselige Textur seiner luftballonbunten Arbeiten ist den amorph-verästelten Oberflächen von Steinen, verwittertem Holz oder hoher See abgelauscht. Draußen in der Welt trägt Teichmann gerne ein Stück Papier – hosentaschengerecht zusammengerollt – und Buntstifte mit sich herum und ist so nirgends ganz fremd. Diese munteren, momentgeborenen Streifen sind relativ frei zu kombinieren. Vielleicht zu einem Wandvorhang, vielleicht zu einem Wasserfall. Da ist einer ganz offensichtlich nicht mehr interessiert am großen, zwingenden, teuer verschacherbaren Meisterwerk.
Im kleinen Bildraum forschen auch drei Frauen eine Tür weiter. Annette Stemmann zeigt Menschen, fluktuierend zwischen städtischen Innen- und Außenräumen, zwischen Hochhausarchitekturund gotischen Hallen. Martia Schydlo erprobt das Zusammenspiel zwischen Bild und Wort. „Flach“, „Planlos“, „Realistisch“, „Umständlich“ steht da als Bildunterzeile – mal bezieht man's auf das Dargestellte, mal auf die Darstellungsweise, - mal auf nichts.
Eine Fundgrube für allerlei Seltsamkeiten sind die ehemaligen Bahnerdiensträume, die Endlosflure, die gigantischen Be- und Entladungshallen: Ein wächserner Kopf mit dahinschmelzendem Hirnkäse, der im Anblick einer Muhmaschine versinkt, ist ganz eindeutig Kunst, witzige Kunst; ein weißer versyphter Verbandskasten mit Rotem Kreuz ist „echt“, witziges Echt. Eine Kiste mit einer kriegsfähigen Menge von Cowboys und Indianern? – Vielleicht Ablenkung, Spielerei, Material für künftige Kunst. Ein Satz von Christian-Heinrich Meyers in Kniehöhe ist fies und raffiniert, also zweifelsohne wieder Kunst. Der Satz heißt: „Eher zwing ich Euch als Ihr mich in die Knie.“ Und der geniale Rhabarberkuchen für piefige zwei Mark Unkostenbeitrag das Stück konnte nach erstem Antesten auch in die Kategorie Kunst eingeordnet werden. Beuys' Idee von der Aufhebung der Grenzen zwischen Kunst und Alltag wird hier Wirklichkeit: Die Kunstwerke, mit Stecknadel an die Wand gepinnt, an irgendwelche Transistormaschinen gelehnt, wirken gebrauchsgerecht aufbewahrt wie Marmeladengläser in der Vorratskammer; das Nützliche - ganze Regimenter von Kaffeemaschinen und sofaartige Sitzmöbel in dubiosen Farben - ist dafür spannender als gewohnt.
Am spannendsten ist an diesen Tagen der offenen Tür die Architektur selbst. Vier Wochen lang werkelte Dave Snebar mit eingezogenem Kopf in einer riesigen, 1.70 Meter hohen „Zwischenetage“, die nur von Kabeln, Rohren und Elektrik bewohnt ist. Die zwangsverschobenen Bahnbeamten haben als letzten Racheakt noch jede Menge vetrackte Kurzschlüsse als „Abschiedsgeschenk“ hinterlassen. Die zu finden war nicht leicht.
Weniger Probleme mit der Technik haben die Künstler von „Werk 47“. Da werden zum Beispiel zwei weibliche aufblasbare Sexpuppen aufeinandergehetzt mit Hilfe lautprustender, pneumatischer Mechanik und stiller Computerarbeit. Vielfältig sind die Aktivitäten.... bk
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