: Laufen gegen die Vergeblichkeit
Frankfurter Streetworker leisten bei der Betreuung von Crack-UserInnern vor allem Beinarbeit. Kontaktaufnahme bleibt mühsam. In der Mainmetropole begann vergangenen Herbst das bisher europaweit einmalige Pilotprojekt ■ Von Heide Platen
Laufen, laufen, immer weiterlaufen. Im grauen Nieselregen vorbei am türkischen Imbiß, an Kneipen, Peep-Show und Bordell. Stundenlang im selben Karree durchs Bahnhofsviertel, Kaiser-, Weser-, Elbe-, Moselstraße. Und keine Klientel in Sicht. Martin Dörrlamm nennt das den „Kripo- Effekt“: „Wir kommen. Und die verschwinden.“
Der Frankfurter Streetworker schreitet im Team wacker voraus. Die Rolltreppe runter, durch die B-Ebene des Hauptbahnhofs. Dort steht nur eine Gruppe eingefleischter Alkoholiker. Von Crack- Usern keine Spur. Trotzdem freut sich Dörrlamm wie ein Schneekönig. Gerade hat er erfahren, daß eine junge Frau von der Straße weg ist und in einem Hotel untergebracht wurde. Ein erster Schritt in die richtige Richtung. Und ein Erfolg, der klein scheint und doch groß ist für das „Crack Street Projekt 97“, das im vergangenen Herbst als Gemeinschaftsaktion von Aids-Hilfe, Jugendamt und Malteser Hilfsdienst begonnen hat. Bis dahin waren Crack-Raucher unbekannte Wesen, von niemandem – außer von der Polizei – wahrgenommen, verdrängt, negiert.
Fünf Mark kostet ein „Stein“, ein unscheinbares Klümpchen, in Kellerlaboratorien aus Backpulver, Natriumhydrogencarbonat (Kaisernatron) oder Äther zusammengebackenes Kokain. Der Kick, die Euphorie, der vermeintliche Glückszustand ist kurz. Sekunden nur. Es bleibt die psychische Abhängigkeit, eine extreme Gier nach mehr, nach dem nächsten Flash, sofort und auf der Stelle. „Fünf Mark, das hört sich“, sagt Franz- Josef Hesse, Arzt beim Malteser- Hilfsdienst, „wenig an.“ Deshalb ist Crack auch oft die Einstiegsdroge für die ganz Jungen, die auf der Szene landen, aber noch „einen Höllenrespekt, Angst vor der Fixe“, der Nadel der Heroinspritze, haben. Und für die arbeitslosen Kids ausländischer Eltern, die ohne Geld und ohne Perspektiven aus der häuslichen Bedrängnis auf die Straße flüchten.
Dann aber kommt diese Gier, die den Crack-Konsum so teuer macht, daß sich an einem Tag bis zu 600 Mark summieren können, während Heroinsüchtige mit 200 bis 300 Mark auskommen. Dörrlamm: „Sie konsumieren bis zur körperlichen Erschöpfung oder bis ihr Geld alle ist.“ Sie schlafen nicht, sie essen kaum, sie haben keinen Ort. Sie leben nur für den nächsten Augenblick, den nächsten „Stein“. Das macht sie unzugänglich, desinteressiert an dem, was viele von ihnen ohnehin nicht haben: Zukunft. Raum und Zeit verschwinden, reduzieren sich auf die Spanne von Stein zu Stein.
Straßenbahnfahrer im Bahnhofsviertel treten auf die Bremse, wenn sie die „hibbeligen“ Gestalten sehen, die sich wackelnd den Schienen nähern, manisch auf der Erde tastend nach einem verloren geglaubten, längst aber konsumierten Crackbröckchen, das doch eben noch da war. Im Café Fix in der Frankfurter Moselstraße treffen die vier Streetworker auf ihrer Runde endlich Anna, etwa 20 Jahre alt. Sie sitzt mit einem alten Junkie zusammen am Tisch, der ihr gut zuredet. Anna kommt aus Süddeutschland. Dort wird sie gesucht, weil sie die meldepflichtige Hepatitis C hat und weil sie noch eine Strafe wegen Schwarzfahrens bezahlen muß.
Anna ist ansprechbar, aber mit sich und der Welt über Kreuz. Eine Ratenzahlung ist nicht angekommen, irgendwer hat sie wieder einmal überfallen und ihr Geld gestohlen. Sie geht sich selbst auf die Nerven und murmelt „alles Scheiße, Scheißsteine“. Dann läßt sie Dampf ab. Ihr Gegner ist der Fixer C., der auf Crack umgestiegen ist und jetzt nur noch Heroin nimmt, um hin und wieder ruhig zu werden.
Streetworker Philipp Stielow kennt seine Geschichte: „Erst extrem Heroin gedrückt und jetzt schwer auf Crack.“ C. sucht den Streit: „Der kennt doch hier jeden Bullen.“ Er provoziert, rempelt, brabbelt vor sich hin. Er verhält sich wie viele der Crack-User, die mit ihrer Umwelt aneinandergeraten, weil sie sie einfach nicht wahrnehmen. Sie wirken wie manische Querulanten, wie Schizophrene. C. übertreibt auch diese Rolle noch. In Wirklichkeit sei er, meint Stielow, „eher ein schreiender Theaterspieler“. C. lehnt Therapie und Betreuung ab und fühlt sich als ein vom Staat verfolgter Konsument. Ein Ritter von der traurigen Gestalt: „Er mischt sich überall ein, rennt hin, wo andere weglaufen.“ Und kassiert Prügel. In den Fixerräumen im Bahnhofsviertel hat er Hausverbot: „Da können wir nur den Schaden begrenzen und die Bekanntschaft pflegen.“
Die aus der Einmaligkeit des Projektes resultierende öffentliche Aufmerksamkeit macht den Helfern zu schaffen: „Wir wollen keinen Heiligenschein, sagt Pelle Heemann, „wir retten hier nicht die Welt.“ Helfen und warten ist Alltag für das Team. Und laufen. Einerseits fehlt der Szene das „Wir-Gefühl der Fixer. Heemann: „Jeder sucht für sich allein.“ Andererseits ist sie mobiler als jede andere, verstreut sich in der Stadt, verschwindet bei Gelegenheit in Abbruchhäusern, Wohnungen und Hotels. Sie ist mit ihren winzigen Purpfeifen nicht auf Angebote der Sozialarbeit, auf feste Orte wie Fixentauschschalter und Druckräume angewiesen. Heemann: „Wir können die nicht mit Pfeifenreinigern locken.“
Ein solches Angebot haben sie dennoch einmal gemacht. Es war erstens „ein Fehlschlag“ und zweitens eher Eigennutz. Die Crackies putzen ihre Pfeifchen sehr gründlich und benutzen dazu, wenn gerade nichts anderes zur Hand ist, die von parkenden Autos abgebrochenen Scheibenwischer. In den Druckräumen sind Crackies als Unruhestifter nicht gerne gesehen. In einem hängt ein säuberlich gemaltes Schild von unfreiwilliger Komik: „Crack-Rauchen ist verboten.“
Dennoch verstehen die Streetworker auch dieses Problem. Während des Konsums sind Crack- Raucher nicht ansprechbar. Aggressivitätsschübe laufen sie auf der Straße ab: „Da können wir sie ansprechen. Das ist schnell wieder vorbei, wäre aber im geschlossenen Raum nicht händelbar.“ Also weiterlaufen, Klientel suchen, Verabredungen treffen. Verabredungen sind wichtig. Sie strukturieren den Tag. Sie sind aber so schwierig einzuhalten, weil sie von einem Augenblick auf den anderen schon wieder vergessen sind.
Viele User sind „Illegale“, junge Männer aus den verschiedensten Ländern, voller Mißtrauen, ohne Aufenthaltserlaubnis, ohne Hoffnung auf Integration. Und „Kids“, junge Mädchen, die sich, „permanenter Mißbrauch“, für einen Schlafplatz prostituieren. Die meisten kommen aus zerrütteten Familien und haben „kein bißchen Selbstwertgefühl“. Heemann: „Wir müssen die Leute an die Hand nehmen.“
An die Hand genommen haben sie auch eine 15jährige Türkin, die „aus allen Rastern gefallen war“. Sie hatte es nicht verkraftet, daß ihre Eltern sie zu den Großeltern ins Herkunftsland zurückgeschickt hatten. Die Trennung, die Schule, das Kopftuch hatten sie aus der Bahn geworfen. Sie schloß sich Junkies an, machte bei Raubüberfällen mit und ihre Einzelfallbetreuerin ratlos. Exzessiver Steinkonsum brachte sie in die Notaufnahme, dann in die Psychiatrie. Stielow: „Das war keine gute Idee. Nach zwei Tagen hatte sie das Gebäude entglast.“ Jetzt lebt sie, vermittelt durch die Streetworker, in einem Mädchenheim.
Bei solchen Fällen sind außer den Hürden, die die Betroffenen selbst aufbauen, auch die behördlichen zu überwinden. Minderjährige aus anderen Städten müßten eigentlich nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz an den Wohnort der Eltern und in den Zuständigkeitsbereich der dortigen Jugendämter zurückgeschickt werden. Zum einen aber wollen sie das nicht, zum anderen fehlt in der Provinz oft die Erfahrung in der Drogenbetreuung.
Anna strahlt wieder, sie freut sich über den Besuch der Sozialarbeiter, deckt sich im Café mit Kakao, Puddingbechern und Joghurt ein und will einen Termin. Sie wirkt jetzt gelöst, ruhiger als andere Crack-User. Eine Methadontherapie hat sie abgebrochen. Jetzt will sie in ein betreutes Wohnprojekt. Sie sieht auf einmal sehr jung aus, die braunen Augen sind hellwach, Grübchen auf den Wangen und am Kinn, wenn sie lacht.
Dörrlamm zückt seinen Terminkalender: „Anna wirkt sehr überzeugend.“ Aber er ist skeptisch. Für ihn ist Anna vorerst nur eine Möglichkeitsform des Erfolgserlebnisses. Drei vereinbarte Termine hatte sie einfach platzen lassen. Sein Kollege Pelle Heemann läuft schon wieder, Straßenecke um Straßenecke gegen die Vergeblichkeit. Der „Kripo-Effekt“ sei das nicht mehr, sondern an diesem Apriltag eher Kälte und Regen. Immerhin ist es ihnen innerhalb eines halben Jahres gelungen, Kontakte zu 76 der rund 200 bekannten Crack-User in Frankfurt am Main aufzunehmen. Mehrfach-Konsumenten und Dunkelziffer schätzen sie auf 800. Diese geduldige Vertrauenswerbung hat es ihnen ermöglicht, einen ersten Bericht über das in Europa bisher einmalige Projekt vorzulegen.
Das ist Papier. Die Kontaktaufnahme zur Klientel bleibt mühsam. Hilfe, Behördengänge, Wohnen, Therapie, müssen in jedem Einzelfall vorsichtig und richtig dosiert werden: „Hier ist kein Tag wie der andere.“ Manchmal sind es auch nur ein „Guten Tag“, ein paar Mark für einen Kaffee, der Beginn des Vertrauens. Heemann: „Absolut verboten ist der Satz, du mußt!“
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